1975 war wohl eher eine
Zeit, in der eine Forderung wie "mehr Zeit für Kinder" auf offene
Ohren stieß.
Heute haben die Menschen
alle Hände und Köpfe voll zu tun und zu denken, um ihren Reichtum zu mehren
und zu sichern, z.b. vor Ossis und anderen Ausländern.
Mein Ansatz zu unserem
Thema mag manchen erstaunen, und ich erhoffe mir etwas Geduld, wenn ich zu
Anfang eine kleine Reise in die Vergangenheit wage, mit all ihren Unwägbarkeiten.
Zunächst mache ich eine
Unterscheidung zwischen dem Begriff und Phänomen der Anti-Pädagogik, dem ich
noch eins draufsetze, indem ich einen Bindestrich zwischen Anti und Pädagogik
setze.
Zeitlich kommt das Phänomen
vor dem Begriff, was sagen will, daß der WIDERSTAND gegen die Pädagogik wohl
schon immer existierte, nur so nicht benannt und begriffen wurde.
Mir ist bis heute noch
nicht klar, warum die Pädagogik bei der Bevölkerung so positiv bewertet wird,
wo es doch so offensichtlich ist, daß sie in der Regel zur Herrschaftssicherung
eingesetzt wird. Ziemlich wahrscheinlich ist es sogar, daß der Anfang des
allgemeinen Schulwesens in den Zucht und Arbeitshäusern des 17. Jahrhunderts
liegt. Die Kloster- und Spitaltradition plus der zu jener Zeit geprobte Freiheitsentzug
führten zur Synthese in der Form der Pädagogisierung sozialer Probleme. Einleitung
mit Anhang für Arbeitsgruppen während der Libertären Tage 1993
Aber ich gehe noch ein
wenig weiter in die Vergangenheit.
In der gesellschaftlichen
Entwicklung der Menschen scheint es einen Bruch gegeben zu haben, während
des Übergangs von den wilden, akephalen (kopflosen), d.h. führerlosen oder
auch segmentären bis zu den kephalen
(Kopf-) Gesellschaften. Die Ersteren bestanden aus einem Nebeneinander von
autonomen, verwandtschaftlich bedingten Gruppen. Ob diese matrilinear oder
patrilinear waren, spielt für diese Ausführung zunächst keine Rolle.
Die Gruppen seien freiheitlich,
anarchisch und ohne Zentralinstanz gewesen. Ihre Normen und Regeln entstanden
durch endlose Palaver, Gewohnheiten und Traditionen. Es kann noch nicht von
einer Rechtsgesellschaft gesprochen werden. Egalität (Gleichheit) war diesen
Gesellschaften selbstverständlich und Herrschaftsabsichten gerieten zur Lächerlichkeit.
So berichten es zumindest Ethnologen wie Sigrist oder Historiker wie Morgan
und Engels und Andere.
Wann und wo nun dieser
Bruch entstand, der die heute gültige Form der Führergesellschaft und damit
auch die des derzeit existierenden Staates ermöglichte, ist nicht einwandfrei
zu recherchieren. Ob es sich um "äußere" oder "innere"
Ursachen handelte, die die Verkopfung und damit die Herrschaftsentstehung
betrieben, wird wohl ein Streit der Wissenschaftler bleiben. Es gibt die Meinung,
die den Übergang auf ökonomische, auf die Entstehung von Eigentum zurückführt
oder andere, die von militärischer oder auch sexistischer Beeinflussung sprechen
und schreiben.
Auf jeden Fall hat die
Aufgabe der egalitären Gesellschaften mit ihren Konsensprinzipien erst Führer,
Priester, Häuptlinge und Medizinmänner. Zeitlich etwa an dieser Stelle, nämlich
bei der Erweiterung der Machtbefugnisse einzelner Menschen entstand schließlich
auch das was wir heute Pädagogik nennen.
Die Führung und Ausbildung
von Menschen im Sinne der Machthaber wurde notwendig mit der Ausdehnung und
dem Erhaltungsbedürfnis von Macht.
Anfänglich waren nur
privilegierte Männer und Frauen einer Zucht unterworfen, die das Ziel der
Verwertung hatte. Es ist nachzuvollziehen, wie sich dieser Vorgang zu Zucht
und Erziehung auf immer mehr Menschen ausdehnte, etwa parallel zur Vergrößerung
der Machtbereiche und der sich damit vermehrenden Funktionen. Diese dienten
dem Erhalt der Dörfer, Städte, Länder, Völker und Staaten.
Anfänglich Männer und
Frauen, dann Jünglinge und Jungfrauen und schließlich aber nicht endlich 6-7-jährige
wurden als Material, als Stoff aus dem die Träume der Herrscher gemacht sind,
entdeckt. Ein Wörterbuch der Gegenwart
definiert Erziehung so:
"Erziehung ist
die Einwirkung einzelner Personen oder der Gesellschaft auf einen sich entwickelnden
Menschen, und Erziehung im engeren Sinne ist die planmäßige Einwirkung von
Eltern und Schule auf den Zögling, d.h. auf den unfertigen Menschen, zu dessen
Wesen Ergänzungsbedürftigkeit und Fähigkeit, auch das Ergänzungsbestreben
gehören. Ziel und Zweck der Erziehung ist es, die im Zögling zur Entfaltung
drängenden Anlagen zu fördern oder zu hemmen, je nach dem Ziel (Erziehungsideal),
das mit der Erziehung erreicht werden soll. Mittel der Erziehung sind vor
allem das Beispiel, das der Erzieher dem Zögling gibt, dann der Befehl (Gebot
und Verbot), die Überredung, die Gewöhnung und der Unterricht. Die Erziehung
erstreckt sich auf Körper, Seele und Geist... und das der heranwachsende Zögling
einen für sich günstigen, seelischgeistigen Standpunkt gegenüber Familie,
Volk und Staat gewinnt..."
Das war aus dem Wörterbuch
von Schmidt, Seite 168, von 1982. Wir leben zwar heute im Jahre 1992. Doch
immer noch meinen auch kritische Pädagogen, ohne Erziehung nicht hinzukommen:
Jürgen Oelkers und Thomas Lehmann kommen in ihrem neu aufgelegten Buch "Antipädagogik"
zur Auffassung, daß Lernen zwar eine elementare Bedingung der individuellen
Entwicklung sei, die aber gehöre pädagogisch definiert. Nun mal sehen!
Zunächst zur Negation
Schon während der Anfänge
der Staatenbildung und in deren Gefolge der Päda-, und Demagogik erfolgte
auch schon das Nein. Anti-Pädagogik entstand zunächst nicht explizit, nicht
begrifflich, sondern phänomenal. Anders gesprochen: Bei fast allen Völkern
hat es Widerstand gegen die Vergewaltigung
der freien Beziehungen oder der freien Entfaltung der Individuen gegeben.
Zwei Beispiele sind
für mich besonders prägnant: Trotz der gewaltigen Macht der Brahmanen, mit
der Autorität der Veden, hat es gerade im Indien des Jahres 500 vor Beginn
der christlichen Zeitrechnung einen Aufstand der Charkawas, einer materialistischen
Denkschule, gegeben. Er brachte das feste Gesellschaftsgefüge in Wanken. Mit
scharfer Kritik und ebensolcher Zunge gingen sie Charkawas gegen den Schamanismus
vor. Sie deckten die ganze Lächerlichkeit und Volksverarschung durch den Gotteskult
mit der damals möglichen Rationalität auf. Ein Spruch von ihnen: Nichts anderes
sind die Spenden an die Ahnen, als ein Erwerbsquell unserer Brahmanen. Die,
die drei Veden ausgesonnen haben, Machtschleicher sind es Schurken, Possenreißer..."
Daß sie sich nicht durchsetzen
konnten, lag auch an der Raffinesse und dem psychologischen Geschick der Priester
und Magiere. Aber das ist ja heute auch nicht anders...
Als durchaus antipädagogisch
darf meines Erachtens auch die "Schule der Kyniker" bezeichnet werden, die mit
Antisthenes und Diogenes von Sinope etwa 100 Jahre später in Griechenland
der gesitteten Welt das Grausen beibrachte. Ohne Rücksicht auf Brauch und
Sitte realisierten sie ihre Philosophie im Leben. Sie anerkannten niemanden
außer sich selbst und ihre Bedürfnisse. Die Kyniker identifizierten sich mit
ihrer subjektiven und objektiven Natur und ließen Geist und Materie nicht
in zwei Teile zerfallen. Antiautoritär und selbstbestimmt widersetzten sie
sich jeder Herrschaft.
Der schwarzrote Faden
der antipädagogischen Grundströmung zieht sich durch die Philosophie der Stoiker
und Skeptiker über die Reformation, den Humanismus, die Aufklärung bis in
den Anarchismus der letzten Jahre.
Die bisherige Darstellung
handelte vom Phänomen der Antipädagogik. Damit soll gesagt werden, daß Menschen
Dinge zunächst wahrnehmen können aber noch nicht bis zur Begrifflichkeit vorgedrungen
sind. Die Prägung des Begriffs geschah erst in den letzten Jahren. Ekkehard
von Braunmühl schrieb sein Buch Antipädagogik vor 1975, Hubertus von Schönebeck
und Bertrand Stern zogen als unermüdliche Redner von Ort zu Ort, verfassten
Artikel in der Zeitschrift "Caspar, Zeitung für den Frieden mit
Kindern" oder die Schriftenreihe "Freundschaft mit Kindern".
1977 kam die Übersetzung des Buches der Maud Mannoni, einer Freudschülerin,
"von der Anti-Psychiatrie zur Antipädagogik" auf den deutschen Markt.
Die vielen literarisch und theoretisch zum Thema arbeitenden Menschen lassen
sich hier nicht alle aufzählen. Einige
von ihnen sind: Heinrich Kupffer, Alice Miller, Katharina Rutschky, Helmut
Ostermeyer, Ivan Illich, Helga Glanschnig usw. Heute kann man getrost sagen,
daß linke wie rechte Positionen herausgekommen sind. Extreme Positionen vertreten
z.B. Renata Leuffens Home Schooling oder auch die Nürnberger Stadtindianer.
Eine wesentliche, von
allen gleichermaßen geforderte Eigenart der gegen Pädagogik eingestellten
Menschen ist der Trieb nach selbstbestimmtem Leben und Lernen. Es wird von
der Fähigkeit zur Selbstbestimmung eines jeden Individuums, unabhängig von
Alter und Geschlecht gesprochen. Der oder die Neugeborene sei genauso gut
in der Lage zu wissen, was richtig für ihn oder sie ist. Ebenso Behinderte
oder Alte. Sie alle könnten einschätzen, welche Lerninhalte für sie wichtig,
welches Essen gut oder welche Freundin die richtige sei.
Was ist überhaupt Selbstbestimmung? Was sind
Voraussetzungen? Wo ist sie unmöglich? Und hier unterscheide ich auch meine
Position von den meisten Anti-Pädagogen, mit Ausnahme von Maud Mannoni und Jessica Benjamin.
Selbstbestimmung
Ich möchte nur meine
Definition in Stichworten darstellen: Ein Individuum besteht nicht durch sich
selbst, sozusagen abgehoben vom Umfeld, sondern erhält das Selbstbewußtsein
durch biologische, psychologische und gesellschaftliche Determinanten. Das
gilt für Außen- und Innenwelt. Die Korrespondenz von Subjekt und Objekt kristallisiert
sich im jeweils entstehenden Selbst. Dieses ist nicht konstant sondern verändert
sich permanent. Es versucht, gemäß seiner Eigenart, Ziele oder Intentionen
zu realisieren und zwar in Auseinandersetzung mit anderen Individuen, Gruppen
und schließlich der Gesellschaft. So ist Selbstbestimmung immer relativ und
immer nur annähernd erreichbar. Allzuoft wird sie gar völlig unterdrückt.
Dennoch weiß jedes Individuum, was für seinen Weg zur Selbstbestimmung richtig
ist.
Es wäre also ausgesprochen
notwendig, besonders im Rahmen der libertären Bewegung dieser Frage etwas
mehr Aufmerksamkeit zu widmen, wie das bisher der Fall war. Ohne groß zu hinterfragen,
ob es denn auch einen materiellen Grund hat, wird ein sogenannter "geistiger
Wesenskern" konstatiert. Den bringe man/frau mit, und aus dem heraus
soll sich dann der Mensch selbstbestimmt entwickeln. Hier wird auf eine Grundlage
zurückgegriffen, welches fragwürdig ist. Den Wesenskern gibt es nämlich nicht.
Dieses WAS eines Menschen entsteht immer auch durch die gesellschaftlichen
Zustände, z.B. durch die Zugehörigkeit zu der herrschenden oder der beherrschten
Klasse. Insofern ist also die Lösung gefragt, wie denn der Mensch seine Interessen
realisieren kann. Wird das möglich, kann von Selbstbestimmung gesprochen werden,
nicht aber a priori. Deutlich wird an diesem Beispiel, wie unsinnig es ist,
vom Selbstbestimmungsrecht ganzer Völker zu reden, die es noch viel weniger
gibt, wie eine Individualität. Ein Mensch ist als WAS stets im Wandel begriffen
und möchte dementsprechend seine Ziel stets neu bestimmen.
Besonders behindert
wird dieser Weg des Wandels und der Zielbestimmung für Kinder, Behinderte,
Alte, Kranke oder auch z.B. Ausländer. Ihnen wird dieses Wissen schlichtweg
abgesprochen. Was die Selbstbestimmung verhindert, ist die Fähigkeit und der
Wille zur Akzeptanz. Der Wille dazu und die Anerkennung der Kompetenz des
anderen allerdings sind Voraussetzungen für den Übergang zu einer herrschaftsfreien
Gesellschaft.
Erschwert wird die Selbstbestimmung
der Individuen und die freie Gesellschaft aber auch durch die Ausdehnung der
Quantitäten, durch die scheinbar rationellen Fusionsbestrebungen bei der gesellschaftlichen
Gestaltung. Statt darauf zu achten, daß die gemeinschaftlichen Zusammenhänge
Größenordnungen behalten, die für ihre Mitglieder überschaubar und handhabbar
sind, werden Städte und Gemeinden immer gigantischer. Je mehr dieser Prozeß
fortschreitet und vielleicht in einem Weltstaat mündet, desto weniger wird
Selbstbestimmung, Selbstverwaltung möglich sein. Die sogenannte Selbstverwaltung
wird ja schon problematisch bei kleineren Kommunen und Betrieben. Die stets
wiederkehrenden Themen auf den diversen Treffen singen unisono das gleiche
Lied: Hierarchie, indirekte Unterdrückung, Psychoterror etc.
Ich glaube, daß es naiv
im negativen Sinne ist, wenn Leute meinen, einfach durch einrichten nichtpädagogischer
Strukturen die Entwicklung zum gigantischen Eine-Welt-Staat aufzuhalten. Es
kann nur als ein möglicher Schritt
begriffen werden, und andere Verweigerungsformen müssen das begleiten. Dennoch
ist es natürlich besser, z.B. in einem Verhältnis zu Freund, Mutter oder Sohn
einen nichtpädagogischen Umgang zu wählen, als zu sagen: Weil alle Menschen
pädagogisch miteinander umgehen, hilft mein Ausbruch Aus der gesetzten Norm
sowieso nichts. Jeder Ausbruch, jede Verweigerung aus und gegen die menschenverachtende
Konzentration und Entfremdung ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Pädagogik als Sozialtechnologie
Die gesellschaftliche
Dimension wird klar, wenn Pädagogik als sozialtechnologisches Mittel begriffen
wird.Definitiv meint Sozialtechnologie die Technik, also Kunst der Herrschenden,
alle Belange der Menschen ihres Territoriums zu manipulieren und in die gewünschte
Richtung zu lenken. Darüber hinaus aber auch die Fähigkeit, Fehler des Systems
so zu verwerten, daß letztlich eine Stärkung desselben erreicht wird.
Die Herrschenden, der
Staat, das Kapital, die Industrie haben als primäre Mittel die 4. Gewalt -
das ist die Wissenschaft. Und dazu gehört auch die Pädagogik. Wes Geistes
Kind die Herrschaftsgewalt nun ist, wird sicht- und erlebbar in den von ihr
entwickelten Bauformen, Städteplanung und Institutionsstrukturen. Hier fallen
besonders auf die Knäste, Kasernen, Krankenhäuser und Schulen. Sie sind in
der Regel getreues Abbild ihres Wollens und Könnens.
Architektur ist sichtbarer
Ausdruck in Beton und Glas gegossener Sozialtechnologie. Dies gilt auch für
die Städteplanung. Hier wie dort drückt sich die herrschende Ansicht von der
idealen Organisation menschlichen Lebens aus und zwar, wie sie sein soll,
um einen möglichst reibungslosen Ablauf der Geschäfte zu sichern. "Wohnungsbau, Städtebau, Stadtsanierung
sind entscheidende gesellschaftspolitische Aufgaben im Dienste der Wirtschaft
und nicht zuletzt der Menschen", so steht es im Heft "Neue Heimat",
Jahrgang 1966, Nr.5.
Im Wohnungsbau wird
die Vereinzelung des Menschen, positiv ausgedrückt die Individualisierung,
planmäßig durch die Bauart festgeschrieben. Je nach Einkommen fallen die Wohnzellen
etwas größer und luxuriöser aus und für Habenichtse auch gar nicht, doch die
Trennung in Wohn-, Schlaf- und Arbeitsbereiche verstärkt die Isolation und
verhindert kollektive Wohnformen. Wenn der Begriff "strukturelle Gewalt"
einen Sinn hat, hier wird er deutlich. Die Herrschaften planen Behausungen
für Menschen von vornherein so, daß anderes wie vorgesehen beinahe unmöglich
wird. Das Leben wird nicht als Einheit betrachtet, es wird eingeteilt in Produktions-
und Reproduktionsbereiche, Kinder und Erwachsenenwelt und weiter in Krankenhäuser,
Alten- und Behindertenheime, Gettos für Kriminalisierte, Psychiatrisierte,
Ausländer usw.
Der Exkurs in den Bereich
der Stadtplanung macht klar, wie Sozialtechnik wirkt, und die Pädagogik ist
ein nicht unerheblicher Bestandteil. Sozialtechnologie läßt sich gliedern
in einen integrativen und einen selektiven Aspekt, welcher in der Verhaltensforschung
mit Zuckerbrot und Peitsche umschrieben wird.
In den Lehranstalten
gibt es bekanntlich Lehrpläne, an die sich die Erziehungsbeauftragten möglichst
zu halten haben. Diese Lehrpläne entstehen ja nicht aus dem Nichts, sondern
sind Ergebnis von Expertengremien, weitab von der Erziehungspraxis, welche
durchaus parteipolitisch ausgehandelt werden und somit wiederum Abbild der
Machtverhältnisse sind.
Natürlich ist die Einflußnahme
des Staates nicht offen erkennbar, besonders da nicht, wo sich Fachleute um
Details streiten. Doch wird aus übergeordneter Perspektive die geplante Normierung
der Menschen eines jeden Staatswesens sichtbar. Der Streit der Parteien mit
der dahinter stehenden Industrie und deren Kompromisse schlagen sich nieder
in der Schulstruktur, den Inhalten und Wertsetzungen. Mit integrativen oder
segregativen (spaltenden) Mitteln werden die Bürger schließlich in die Staatsnorm
gezwängt.
Das setzt im Säuglingsalter
bereits an, wo der stillendenden Gebärerin oder dem Flasche reichenden Aufziehungshelfer
mittels einer gestylten Wissenschaft eingeredet wird, es gäbe einen
Vier-Stunden-Rhytmus. Das heranwachsende Kind müsse täglich so und
soviel Gramm zunehmen, also auch bei jeder Mahlzeit 200 g flüssiges Milupa
oder Nestle saufen usw. Daß ein Vier-Stunden-Rhytmus ein Hohn auf jede wissenschaftliche
Erkenntnis ist, daß es sich hierbei um einen Maschinentakt handelt, fällt
natürlich keiner technikgläubigen Person ein. Um letztlich einen 8-Stunden-Monotonie
aushaltenden Arbeiter oder Angestellten zu erreichen, setzt das Erziehungsunwesen
schon beim Kleinsten die sogenannten Säuglingsgymnastik ein.
Diese Integrationsbemühungen
werden ergänzt durch eine immer perfektere Vorsorge, die dann je nach Ergebnis
die Segregation (Abtrennung) schon vorbereitet. Die Diagnose: Mongoloid beispielsweise
bedeutet dann potentiell Behindertenschule oder heilpädagogisches Heim für
den Menschen. Bei weiterer Entwicklung der Gen-Technik wird dieser Segregationsmechanismus
(Auslesemechanismus) pränatal (vor der Geburt) angesetzt.Ungeachtet des eigenen
Bio-Rhytmus und der ganzen individuellen Ausprägung wird nun versucht, über
erstklassig geschulte KindergärtnerInnen, Erzieher und wie die Experten für
die Älteren heißen mögen, nach dem Motto "die Guten ins Töpfchen, die
Schlechten ins Kröpfchen" gesondert.
1987, als von den neuerlichen
Problemen der Wir-Deutschen höchstens einige Vordenker der Rechten wie
der Anthroposoph und WSL- (Weltbund zum Schutze des Lebens) Vorständler
oder die Herausgeber der Jungen Freiheit, die hier ja jede kennen dürfte,
Dieter Stein und Dr. Götz Meidinger, nicht aber die liberale oder linke Szene
etwas ahnte, schrieb die ZEIT in einem Artikel von Robert Leicht mit dem Titel
"Computer aber kaum noch
Kinder": Ein erheblicher Bevölkerungsrückgang um 30 % wird nach
einer aktuellen Erhebung die Wirtschaftswunder-Nation in nicht unerhebliche
Schwierigkeiten bringen. Ein solcher Bevölkerungsrückgang würde sich niederschlagen
auf die Rentenversicherung, die Besteuerung der einzelnen Bürger zwecks Erhalt
der kulturellen Einrichtungen, auf die Proportion Deutsche Ausländer (2030 rechnete die Studie mit 40,3
Mil. Deutschen, denen 10,4 Mil. Ausländer gegenüberstünden), auf Tendenzen
in den Haushalts-, Arbeitsmarkt-, Bundeswehr-, Öffentlichen Finanzen usw.
Sollte diese rückläufige
Tendenz der Reproduktionsrate aufgehalten werden, müßte jede Frau 2,1 Kinder
bekommen. Diese Situation ist in allen Industrienationen ähnlich. Der Autor
kommt zu der komprimierten Aussage: "Die Herausforderung, die aus allem
erwächst, läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Nun kommt es darauf an,
die Risiken unseres Zivilisationstyps unter Kontrolle zu bringen, ohne den
Zivilisationsgewinn der Moderne zu verspielen". Interessant ist es, unter
diesen Gesichtspunkten die sogenannte Lebensschutzbewegung und die rechte Ausländerhetze zu analysieren. Und:
Die Probleme, die sich der Staat selber schafft, löst er mit Hilfe seiner
eigenen Bürger, indem er diese die Suppe auslöffeln läßt.
Negation der Pädagogik
Doch zurück zur Pädagogik,
bzw. deren Negation: Kritisiert wird von mir, daß die Pädagogik institutionalisierte
Bewegung im Dienste der Herrschenden ist. Sie legt Beziehungsformen fest,
verobjektiviert Verhalten und verhindert die Möglichkeit der gleichberechtigten
gegenseitigen Beeinflussung. Als pädagogische Institution unterliegt sie auch
noch sekundär der Institutionskritik. D.h., Institution ist nur insoweit notwendig,
als sie eine Bewegung zu einem ganz bestimmten Zweck festhält, ordnet und
formt. Ich versuche das am Beispiel des Lernens deutlicher zu machen:
Lernen ist eine Bewegung
zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis, mit deren Hilfe eine neue Wahrnehmung
und wiederum eine andere Erkenntnis möglich wird. Zunächst geschieht dieser
Vorgang ganz ungeregelt und wird von allen menschlichen Individuen, gleich
wie jung oder alt sie auch sind, vollzogen. Und zwar gemäß seiner körperlich-geistigen
Organisation. Um diesen Vorgang zu fördern, brauchen wir Anregungen und Lerninhalte
von außen. Wenn diese, um das Lernziel zu erreichen, einer Kontinuität bedürfen,
ist es notwendig, zeitlich und örtlich zu strukturieren. So entsteht Methodik
und Lernort, gemeinhin Schule genannt. Eine pädagogische Institution ist vorhanden.
So weit, so gut, wenn diese Einrichtung von Lehrenden und Lernenden gemeinsam
gewollt wird. Nun hat aber jede Institution, ähnlich einem lebenden Organismus,
einen Selbsterhaltungstrieb, oder im Falle der Organisation eher eine Eigengesetzlichkeit
(auch Norm genannt). Diese führt dazu, obwohl der Körper überflüssig ist,
sich mit allen Mitten am Leben zu halten (Es gibt heute noch Gesetze, die
angesichts der Zeit, in der wir leben, lächerlich sind).
Beispiele dafür gibt
es viele. In der Regel und nicht umgekehrt führt diese Art von Selbsterhalt
zum Gegenteil der ursprünglichen Absicht. Man nehme die Kooperativen und Genossenschaften der frühen zwanziger Jahre und
das, was heute ist. Die alternden Institutionen sind getreues Abbild einer
längst verschwunden geglaubten Gerontokratie, d.h. Altersherrschaft.
Dennoch lehne ich die
Institution (und die Norm) nicht grundsätzlich ab. Aber ich befürworte sie
nur soweit, wie unbedingt erforderlich. Danach steht die permanente Institutionskritik.
Normen, Gesetze, Institution sind ja nichts anderes als Vereinbarungen, und
die müssen eben von Zeit zu Zeit überdacht und korrigiert werden.
Pädagogik als Konservativismusstütze
Schließlich und dem
heutigen Stand entsprechend verhindert die staatskonforme Pädagogik, und das
ist sie mehr oder minder immer, eine kognitive (denkende, erkennende) Gesellschaft
im Sinne des Erkenntnistheoretikers Jean Piaget. Die am Leistungsprinzip und
Kapitalismus orientierte Pädagogik läßt umfassende Erkenntnis für alle nicht
zu. Die aber wäre Voraussetzung für eine Befreiung von Zwängen und einer freien
Gesellschaft.
Pädagogik kanalisiert die Triebe und Fähigkeiten
zu gewünschten Mehrwert schöpfenden Ergebnissen. Insofern steht sie hier ganz
im Dienste der konservativen Eroberung. Sie unterstützt zentralistische Tendenzen
im Sinne der Neuen Weltordnung und betreibt eine Regression (ein Rückschritt)
in der Werteordnung, die vor 10 Jahren nicht denkbar gewesen wäre. Insofern
ist Pädagogik konservativ, als sie zum Erziehungsgehilfen der Staaten wird
und Befreiungsbewegungen nur in den Anfängen dient, wie das in Nicaragua erfahren
werden konnte.
Es gibt nun mal Widersprüche,
die durch nichts aus der Welt zu schaffen sind. Ein vom Zentralkommitee verordneter
Kommunismus ist einfach nicht möglich, so wie es auch keine anarchistische
Pädagogik geben kann. Es gibt keine Annäherung ohne Substanzverlust zwischen
These und Antithese. Da aber die These derzeit konservativ oder gar faschistisch
ist, bleibt mir zunächst nur die Negation.
Ob es der spanische
Anarchist Francisco Ferrer mit seiner 1901 gegründeten "Modernen Schule"
war, dessen Kritik am staatlichen Bildungsmonopol ansetzte, der aber eine
sozialistische Erziehung für unabdingbar hielt, oder ob es sich um die Summerhillschule
von Neill, 1921 gegründet und heute noch existierend, handelt, der
bekanntlich die Selbstbestimmung in den Mittelpunkt seiner Erziehung stellte
und einer Überbewertung der Fähigkeiten des Kindes anheimfällt - beide Versuche
stellen nicht die Erziehung an sich infrage.
In jener Zeit tauchen
dann auch die ersten Waldorfschulen auf mit ihrer Forderung "Erziehung
zur Freiheit". Das ist schon im Ansatz unsinnig, da Freiheit nicht anerzogen
werden kann, es sei denn, es geht um die anerzogene Freiheit der ErzieherInnen.
Hinzu kommt, daß Waldorfpädagogik ideologische Grundlagen hat, die voll auf
die zu Erziehenden durchschlagen. Weitere Varianten heißen: Makarenkos sozialistische
Kollektiverziehung, Montessori-Pädagogik, Freinet-Pädagogik, Freire-Pädagogik,
Bemposta-Kinderrepublik in Spanien oder die Tvindschulen in Dänemark. Zumindest
genau soviel, wenn nicht mehr Initiativen sind in den USA zu verzeichnen.
Von den Versuchen, menschliches
Lernen in Freiheit zu ermöglichen, scheinen mir die Freien Schulen oder die
Initiativen für selbstbestimmtes Lernen die fortschrittlichsten zu sein. Hierzu
zähle ich auch die Gegen- oder Alternativ-Unis, wo Angebot und Nachfrage den
Lehrstoff bestimmen. Prinzipiell gibt es keine(!) Pädagogik, auch die libertäre
nicht, die geeignet wäre, anarchische Zustände zu schaffen, da Pädagogik ohne
Führungsprinzip nicht geht, und sie auch nicht geeignet ist, die Eigentumsverhältnisse
aufzulösen, was wiederum Vorbedingung für egalitäre Verhältnisse wäre.
Zur Schulpflicht
Durch die Schulpflicht würden Zukunfts-Chancen
gewährleistet, lautet ein weiteres Argument. Was ist eine Zukunfts-Chance?
Von den Befürwortern der Schule wird kurzerhand die von den Machthabern definierte
Chance übernommen, ohne zu hinterfragen, ob denn diese Form der Zukunft von
uns, von mir oder Dir überhaupt gewollt ist. Die Anarchie wird garantiert
nicht durch die Schulpflicht erreicht.
Kinderarbeit werde verhindert,
sagen sie. Doch da die Schule willfähriges Instrument in den Händen des Staates
ist, kann dem nur entgegengesetzt werden, daß sie dazu dient, die Ausbeutbarkeit
der Menschen vorzubereiten und ihnen zusätzlich Jahre einer alters und entwicklungsbedingten
Erfahrung zu stehlen. Auch wäre zu fragen, ob nicht die Schularbeit auch harte
Arbeit ist, die oftmals die jungen Menschen überfordert.
Daß die Schule eine
soziale Errungenschaft sei, wird behauptet, und die könne man doch nicht einfach
aufs Spiel setzen. Nun ja, ich weiß nicht, was an dieser Vorform von Knast
sozial ist? Es sei denn, man betrachtet Disziplinierung und Aussonderung als
humanitäre Mittel der Sozialisation. Aber vielleicht ist das Militär auch
eine soziale Errungenschaft?
Eine Pro-These lautet:
Durch Öffnung des Bildungswesens hin zum freiwilligen Lernen würde der Zugriff
konservativer Kräfte möglich. Den
haben diese Kräfte in dem Maße, wie sie im Machtbesitz sind. Würde jedoch
ein vielgestaltiges Bildungsangebot ohne Einschränkungen erlaubt, wer ginge
dann noch in Klosterschulen? Freie Initiativen hätten erst die Möglichkeit,
mit Qualität und Phantasie zu überzeugen.
Fazit
Die Hochzeit der antipädagogischen
Auseinandersetzung ist augenblicklich vorbei. In der Pädagogik ist bestenfalls
eine Reformation erfolgt, die bald wieder reformiert wird. Wie auch auf anderen
Gebieten hat die herrschende Clique es verstanden, die Revolte zu bremsen.
Den einen oder anderen Ansatz der befreienden Momente hat die Pädagogik integriert.
Das, was dem Zeitgeist dient, die revolutionären Ansätze konnte sie mit dem
Erstarken der konservativen Wende verhindern.
So wäre es denn die
Aufgabe der Kritischen im Lande, den Diskurs in Theoriezirkeln zu führen und
in liberale Medien zu tragen. Die wenigen praktischen Ansätze einer Bildung
ohne Führung sollten sich konsolidieren, um zu überleben. Die Zeiten werden
sich ändern, denn der Kapitalismus hat keine längere Überlebens-Chance. Er
kriselt sich selbst kaputt und das Ergebnis wird garantiert nicht Anarchie
heißen, obwohl die Demagogen den entgleisten Vielvölkerstaat so nennen.
Hier, während der Libertären
Tage, wäre von einer Anti-Pädagogik-Arbeitsgruppe zu folgenden Schwerpunkten
zu arbeiten:
1. Kritik der Pädagogik
(1)
Anmerkungen:
Zu
(1): hierzu empfehle ich das Buch von Freerk Huisgen, der in hervorragender
Weise die Grundlügen der Pädagogik herausgearbeitet hat: "Die Wissenschaft
von der Erziehung", VSA, DM 20.
Zu
(2): siehe hierzu die Beiträge von Inès Gutschmidt, Jörn Essig, Hagen Stolz
und Gerald Grüneklee in dem Buch "Lernen in Freiheit" hrg. Kern/Grüneklee,
unrast-Verlag Münster, DM 20.
Ebenso:
"Liebe als Dressur" von Helga Glantschnig, Campus.
Zu
(4): Gottfried Mergener in "Lernen in Freiheit" (s.o.).
Zu
(5): Revolutionäre Veränderung der Eigentumsverhältnisse, Änderung der gesellschaftlichen
Strukturen: "Freiheit, Gleichheit, Solidarität". Alles andere ist
fauler Zauber.
Die schon eingangs ausgeführt,
gibt es keine "bessere" Pädagogik und es kann bei einer Suche nach
Alternativen nur um Formen des Zusammenlebens gehen, die den kompetenten Umgang
der Menschen - der kleinen wie der großen - ermöglicht. Ob das nun Wohngemeinschaften,
Kommunen oder Zweierkisten sind, ist zweitrangig.
Gerhard Kern
Morbach, den 24.09.1992
Kontaktadresse:
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