Anarchistische Perspektiven auf soziale Verteidigung und zivilen Friedensdienst


Caro
Aktuelles Ukraine Friedenspolitik

Die westeuropäischen Staaten und Menschen, insbesondere jene, die sich dort seit langem für Frieden engagieren, stehen den Herausforderungen, welche der Krieg in der Ukraine mit sich bringt, ziemlich hilflos gegenüber. Wer kann im Angesicht des Krieges noch ernsthaft für Gewaltlosigkeit, für Pazifismus eintreten?

Wirtschaftliche Sanktionen und Waffenlieferungen werden als die einzig mögliche und sinnvolle Form von Solidarität dargestellt und von der ukrainischen Regierung auch vehement eingefordert. Das ist die Logik des Krieges: Wir sollen glauben, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann, dass irgendeine Seite gewinnen kann. Die Geschichte zeigt jedoch, dass Aufrüstung, egal auf welcher Seite, den Krieg verlängert und verschlimmert. Im Krieg kann niemand gewinnen! Sind die Regierungen sich eigentlich bewusst, was ein Versagen der militärischen Abschreckungspolitik bedeuten würde? Vielleicht verzögert der militärische Widerstand nur eine unausweichliche Niederlage.

Gibt es eine Alternative zur Kriegslogik der permanenten Aufrüstung? Ja, doch die besteht nicht darin, aufzugeben und sich passiv den Aggressoren zu beugen, sondern um Möglichkeiten sozialer Verteidigung. Fast überall auf der Welt wurde in den vergangenen Jahrzehnten militärisch aufgerüstet, es wurden jedoch kaum Strategien des aktiven gewaltfreien Widerstands trainiert. Immer wenn der Militarismus zu einer Eskalation führt, wie jetzt eben in der Ukraine, heißt es: „Was bringt uns der Pazifismus? Er funktioniert nicht“. Damit es funktionierende Alternativen geben kann, hätten diese aber vor Ort geübt, finanziert und weiterentwickelt werden müssen. Wir brauchen stabile Netze der Solidarität über Landes- und Sprachgrenzen hinweg.

Pazifismus ist keine weltferne Wohlstandtheorie, die nur in Friedenszeiten Sinn ergibt – er ist aus dem unmittelbaren und brutalen Erleben von Krieg in den vergangenen Jahrhunderten entstanden. Eine Wiederholung der Geschichte sollte verhindert werden, was bislang nicht gelungen ist.

Das also waren die Versäumnisse. Was kann jetzt getan werden? Wir sollten endlich beginnen, hier bei uns diese alternativen Strategien des gewaltfreien Widerstands bekannt zu machen und aktiven Pazifismus zu üben. Der Krieg kann zu uns kommen oder wir könnten in Kriegsgebiete gehen. Wir sollten vorbereitet sein.

Ich denke, dass die anarch(opazif)istische Bewegung enorm davon profitieren kann die Ideen der sozialen Verteidigung in ihr Repertoire aufzunehmen. Umgekehrt kann die bürgerliche Friedensbewegung von den Erfahrungen und Werten der anarchistischen Bewegung profitieren. Von einer stärkeren Vernetzung der Bewegungen und einer Annäherung der beiden Theorien mit Fokus auf der sozialen Verteidigung erhoffe ich mir eine Praxis des Widerstands in Konfliktsituationen, die sich auf Menschlichkeit und Solidarität beruft und sich nicht auf die staatliche Kriegslogik verlassen muss.

Soziale Verteidigung und ziviler Friedensdienst sind mögliche Antworten auf die Frage, wie Frieden geschaffen werden kann.

Die Theorie der sozialen Verteidigung geht davon aus, dass „alle Macht vom Volk ausgeht“, dass also die Macht einer Regierung nur so groß ist, wie die Zustimmung der Regierten. Wenn diese ihre Zustimmung entzogen und der Gehorsam verweigert wird, bricht die Basis dieser Macht zusammen. Das ist ebenfalls eine Basis der anarchistischen Theorie. Im Verteidigungsfall bedeutet das, dass nicht das physische Territorium eines Landes verteidigt wird, sondern die Selbstbestimmung einer Gesellschaft.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden dazu einige mögliche Vorgehensweisen identifiziert und entwickelt:

Aufbau des Zusammenhalts im Widerstand

Hierzu zählen symbolische Handlungen, die deutlich machen wie viele Menschen den Widerstand der Gesellschaft gegen die Besatzungsmacht mittragen; Beispielsweise das Zeigen von bestimmten Zeichen (Buttons, Fahnen, Graffiti etc.), aber auch Demonstrationen.

Verhindern von Gewaltanwendung durch die Gegenseite

Diese Methoden bergen ein großes Risiko, da die Erfahrungen mit solchen Aktionen sehr unterschiedlich sind. Das Konzept der sozialen Verteidigung geht davon aus, dass es kein Zufall ist, ob Gewalt angewandt wird oder nicht, sondern dass es bestimmte Hemmschwellen gibt, die aktiviert werden können. Ein Bild, das diese Methode veranschaulicht, sind protestierende Menschen die schussbereiten Panzern gegenüberstehen. Bei den bewaffneten Soldat:innen besteht im Angesicht der friedlichen Menschen eine gewisse Hemmung zu schießen und sich damit gegebenenfalls auch über anderslautende Befehle hinwegzusetzen.

Ablenkung der Gegenseite von ihren Zielen

Das umfasst die Verweigerung der Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht, Boykotts und Streiks - Theodor Ebert hat den Begriff der „dynamischen Weiterarbeit ohne Kollaboration“ dafür geprägt - aber auch das Übertreten von ungerechten und aufgezwungenen Gesetzen und der zivile Ungehorsam. Konkret heißt das, dass eine Zusammenarbeit nur soweit eingegangen wird, wie sie für die Erhaltung der Lebensgrundlagen einer Stadt und die Interessen der Bevölkerung notwendig ist. Neue Anweisungen durch die Besatzungsmacht werden nicht angenommen.

Bei der zivilen Friedenssicherung geht es um die Prävention von und den Schutz vor Gewalt in Konfliktsituationen durch die Präsenz von Unbewaffneten, die vor Ort aktiv sind. Diese unbewaffneten Fachkräfte können Freiwillige oder Expert:innen aus der betroffenen Region oder von anderswo sein. Sie unterstützen und verbinden Aktionen zur Gewaltprävention und Diplomatie sowie die Widerstandsfähigkeit von lokalen Gemeinschaften. Ziele der zivilen Friedenssicherung können auch der Schutz der Zivilbevölkerung im Allgemeinen und von Geflüchteten oder ethnischen Minderheiten im Besonderen sein, sowie die Beobachtung von Waffenstillständen oder die Begleitung von Menschenrechtsverteidiger:innen.

Die Sicherheit der unbewaffneten Peacekeeper:innen hängt davon ab, dass sie vertrauensvolle Beziehungen zu allen Konfliktparteien und zu den Menschen vor Ort aufbauen. Dafür ist es notwendig, dass sie unparteiisch und unabhängig sind.

Ein wichtiges Instrument für die Prävention einer militärischen Eskalation ist auch die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Weitere Aspekte der sozialen Verteidigung können auch die folgenden Punkte sein: Dialog zwischen den Beteiligten fördern, Feindbilder abbauen, Sicherheit und Teilhabe von marginalisierten Gruppen fördern (klassischerweise liegt hier der Schwerpunkt auf Frauen*), ehemalige Kämpfer:innen wieder in die Gemeinschaft integrieren, Gewaltopfer psychosozial betreuen, Journalist:innen für eine friedensfördernde Berichterstattung sensibilisieren.

Was haben diese Ideen nun mit der anarchistischen Theorie und Praxis zu tun? Anarchistische Werte, die für die Anwendung auf das Konzept der sozialen Verteidigung relevant sind, sind unter anderem Hierarchiefreiheit, Solidarität, die Ablehnung von Nationalstaaten und das Konsensprinzip. Daraus lassen sich einige Kritikpunkte an der bisherigen Theorie der sozialen Verteidigung und des zivilen Friedensdiensts ableiten, von denen ich hier auf zwei eingehen möchte.

Das Konzept der sozialen Verteidigung entstand Ende der 1950er Jahre und wurde vor allem während des „Kalten Krieges“ vom damaligen Bedrohungsszenario geprägt. Sie ist bis dato eine bürgerliche Theorie und bezieht sich daher vor allem auf Handlungsmöglichkeiten innerhalb von staatlichen Bezugsrahmen.

Auch die zivile Friedenssicherung geht zumeist von Konflikten zwischen verschiedenen Staaten beziehungsweise unterschiedlichen Gruppen innerhalb eines Staatsgebiets aus. Es wird davon ausgegangen, dass die friedensfördernde Intervention von „Drittstaaten“ ausgeht.

Diese gedankliche Beschränkung auf Nationalstaaten entbindet andere Konfliktparteien und die Zivilbevölkerung von der Verantwortung aktiv für Frieden einzutreten. Als Anarchist:innen können wir hier ansetzen und den Handlungsrahmen öffnen.

Wenn in der Theorie der sozialen Verteidigung von Widerstand die Rede ist, ist damit in der Regel gewaltfreier Widerstand gemeint. Alle Taktiken, die irgendeine Art von Gewalt gegen Menschen in Kauf nehmen, werden abgelehnt. Die Argumentation besagt, dass nur vollkommen friedlicher Widerstand die Anwendung von Gewalt auf der (bewaffneten) Gegenseite verhindern kann.

Die Diskussion um Definition und Legitimität von Gewalt spielt in den meisten sozialen Bewegungen eine Rolle. Innerhalb des anarchistischen Spektrums gibt es hierzu verschiedene Ansichten, auf die ich jetzt nicht im Detail eingehen werde, jedoch steht diese Festlegung auf absolute Gewaltfreiheit im Konflikt zur „Diversity of Tactics“, einer Vielfalt von Taktiken, die im Konfliktfall von verschiedenen Gruppen angewendet wird und die sich nicht gegenseitig ausschließen muss. Es ist wichtig, dass Widerstand in einer Bedrohungssituation nicht an der Frage der Gewaltfreiheit zerbricht, allerdings sollten wir uns daher im Voraus intensiv damit befassen.

Es gibt jedoch auch einige Berührungspunkte zwischen anarchistischen Werten und den Ideen, die der sozialen Verteidigung zu Grunde liegen.

Das Konzept der sozialen Verteidigung basiert auf der Ansicht, dass es nicht in erster Linie das Territorium eines Staats sein sollte, welches es im Angriffsfall zu verteidigen gilt, sondern die Gesellschaft – also die Menschen. Auch die Betonung von Diplomatie und Abrüstung dienen dazu, militärische Eskalationen abzuschwächen oder zu verhindern, da diese immer mit dem Tod von vielen Menschen einhergehen – egal auf welcher Seite.

Aufnahmebereitschaft nicht nur für die Zivilbevölkerung, die aus Kriegsgebieten flieht, sondern auch für Kriegsdienstverweiger:innen und Deserteur:innen beider Konfliktparteien ist wichtig.

Befürworter:innen betonen immer wieder, dass die Techniken des sozialen Widerstands ein geübt werden müssen, um im Ernstfall angewandt werden zu können. Menschen, die ihr ganzes Leben lang den Anweisungen von Autoritäten gehorcht und sich an alle Gesetze gehalten haben, tun sich schwer damit in einer akuten Bedrohungssituation dann plötzlich Widerstand zu leisten. Diese Erfahrung machen auch viele Aktivist:innen in sozialen Bewegungen: Wer zum ersten Mal eine Straße, einen Baum oder einen Platz besetzt kennt das Herzklopfen, das sich einstellt, wenn die Polizei eine:n zum ersten Mal auffordert zu gehen. Doch wer diese Situationen ein paar Mal erlebt hat, gewöhnt sich daran und kann mit kühlem Kopf reagieren.

Eine traditionelle Taktik anarchistischer Bewegungen, die großes Potenzial für die soziale Verteidigung haben könnte, ist die gezielte Sabotage. Rüstungsproduktion und Kriegsgerät kommen hier als Ziel in Frage.

Es ist nicht zielführend, dass wir als Anarchist:innen unreflektiert die Positionen und Ideen der bürgerlichen Friedensbewegung übernehmen. Allerdings können wir durch die bereits geleistete Theoriearbeit zur sozialen Verteidigung einiges an Erkenntnissen darüber gewinnen, wie „Frieden schaffen ohne Waffen“ in der Praxis funktionieren kann. Die Konzepte müssen auf jeden Fall kritisch hinterfragt und an die Bedürfnisse und Werte der libertären sozialen Bewegungen angepasst werden. Diesen Prozess möchte ich anstoßen.

Carolin Schiml

Caro beschäftigt sich seit 10 Jahren mit (post-)anarchistischen Ideen, Tauschlogikfreiheit und der mehr-als-menschlichen Mitwelt. Außerdem ist sie Übersetzerin, Musikerin, Mutter, Seelsorgerin, Künstlerin und lebt in Bayern.

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