Möchtest du spüren, wo es weh tut, dann geh in die Walachei. Dortige Patrioten bezeichnen dieses hiesige Synonym für „irgendwo und auch egal“ als das Kernland Rumäniens. Die Stadt Curtea de Arges bildet ein kleines, aber politisches Zentrum mit omnipräsenter christlich-orthodoxer Präsenz und wird von stolzen Einheimischen als Kulturstätte angesehen.
Noapteș heißt dort ein Stadtteil, in welchem der Autor des gleichnamigen Reportageromans einige Jahre lebte und die gesellschaftlichen Verhältnisse studierte. Seine Schrift sammelt reale Begebenheiten und ist eine dringende Warnung davor, diese Gesellschaft und ihre Zustände zu unterschätzen oder gar zu romantisieren. Mit ausgeprägter Ellenbogenmentalität kleiner Patriarchen beiderlei Geschlechts birgt sie einen faschistoiden Charakter, ummantelt von allmächtig erscheinenden Institutionen wie Kirche, Staat und Kapital.
Martin Veiths Beobachtungsgabe und Erzählperspektiven nehmen uns durch die Buchkapitel, als wären wir mit einer Kamera live dabei: Bei Machtstreitigkeiten und Intrigen in den Nachbarschaften, bei den Folgen kapitalistischer Verrohung im Krankenhaus oder an der Universität. Neid, Schadenfreude sowie ständiger Macht- und Anpassungstrieb nebst freudiger Unterwürfigkeit formen die Gefühlsseite einer ansonsten eiskalten Gesellschaft. In allen Bereichen offenbart sich ein Dauerzustand des Terrors der Bevölkerung untereinander. Werte wie Mitgefühl oder gar Solidarität sind in diesem atomisierten Haifischbecken wenig ausgeprägt. Es ist kein Zynismus, wenn im Vergleich mit diesen Zuständen die ausgiebig geschilderte Arbeitsemigration aus Rumänien wie Urlaub wirkt: Die Protagonisten sterben nämlich erst dann, wenn sie wieder zurückkehren. Sicher ist ihnen bloß die inszenierte und geheuchelte „Trauer“. Als beliebige Spielsteine zwischen Kapitalismus und Sadismus gehen sie in Zentralrumänien zugrunde, ähnlich wie die Besatzung der „Yorikke“ in B. Travens „Totenschiff“ wo es heißt:
„Wer Hier eingeht Dess’ Nam’ und Sein ist ausgelöscht. Er ist verweht. Von Ihm ist nicht ein Hauch erhalten.“
Hoffnungen, Unterstützungen und Perspektiven gibt es lediglich im Ausland, wozu der Autor einige Beispiele internationaler gegenseitiger Hilfen aus verschiedenen Spektren anarchistischen Engagements aufzeigt. Ob in Italien oder in Ungarn, ihre Strahlkraft auf Gesundheit und Gemüt der Arbeitsemigranten ist enorm und beispielhaft, bis sie zwischen Donau und Karparten langsam zum Erliegen kommt.
Mehrere Kapitel beginnen wie ein seichter Horrorfilm mit beeindruckenden Naturbeschreibungen und lehrreichen Ausführungen über die Geschichte des Landes. Dann verdichten sich am Erzählhorizont Wolken, die sich im Verlauf unweigerlich zu exzessiven Widerwärtigkeiten ausformen. Jedes erzählerische „Aftercare“ markiert nur den Neubeginn der nächsten Scheußlichkeit. An solchen dramaturgischen Wendepunkten ist es weder leicht, weiterzulesen, noch damit aufzuhören. Der Roman bleibt besonders in den Veranschaulichungen von Anticharakteren gleichsam treffsicher, spannend und ekelhaft bis kurz vorm Schluß. Und wie eine Vorahnung, ist das Romanende nur der seichte Auftakt für einen geplanten Fortsetzungsroman von Martin Veith, auf den wir uns als Freunde von Schauder und anarchistischer Sozialkritik schon kräftig freuen dürfen.
Leseprobe Martin Veith Noptesch.pdf
Martin Veith: NOPTESCH - Noapteș Vom Leben und Sterben in Rumänien Erzählungen aus dem Alltag, Verlag Edition AV, ISBN 978-3-86841-154-4, 420 Seiten, 20 Euro