Die Feministische Initiative Ruhr, kurz Femin, ist eine politische Gruppe aus Dortmund. Sie hat den Anspruch, feministische Klassenpolitik voranzubringen; in diesem Zusammenhang ist sie unter anderem maßgeblich an der Organisation des Frauen- und Mädchentreffs Lyra im Rahmen des Stadtteilladens Union Salon beteiligt.
Praktisch seit ihrer Gründung 2021 sieht sich Femin Anfeindungen aus Teilen der lokalen linken Szene ausgesetzt; es wird ihr unter anderem vorgeworfen, „transfeindlich“ und „sexarbeiter:innenfeindlich“ zu sein. Besonders hervorgetan hat sich dabei die Anarchistische Gruppe Dortmund (AGDO). Seit Jahren machte sie unter anderem im lokalen 8.-März-Bündnis gegen Femin Stimmung und versuchte, die Gruppe und ihre Inhalte auszugrenzen. Ende Mai 2025 hat die AGDO nun eine ausführliche Denunziationsschrift gegen Femin mit dem Titel „Warum Minderheiten nicht in die Fußnoten gehören“ veröffentlicht. Die Sache mag zunächst als rein lokaler Szenestreit erscheinen. Sie ist aber auch überregional von Interesse; zum einen, da Femin durch ihre Arbeit auch über die Grenzen des Ruhrgebiets eine gewisse Bekanntheit erlangt hat, zum anderen, da sich hier exemplarisch ein Konflikt zweier Linien innerhalb des linken Feminismus zeigt, der auch an anderen Orten mal offen, mal konfus und untergründig geführt wird: eines revolutionären, klassenkämpferischen Feminismus auf der einen und eines linksliberalen Szenefeminismus auf der anderen Seite. Letzterer gibt sich dabei oft radikal, in Wirklichkeit verbreitet er aber Versatzstücke bürgerlicher Ideologie bis weit in die linksradikale Bewegung.
Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, im Folgenden einen offenen Brief unseres Autors Alfred Masur an die Anarchistische Gruppe Dortmund zu dokumentieren, mit dem dieser in die Auseinandersetzung interveniert.
Liebe Leute,
glaubt man eurer Darstellung, so herrschen in der Dortmunder feministischen Bewegung recht autoritäre Zustände. Das Organisationsbündnis der feministischen 8.-März-Demo habe sich zur „Szeneführung“ aufgeschwungen und strebe danach, „die eigene Macht auszubauen, zu stabilisieren oder zu erhalten.“ (S. 7) Auch die Dortmunder feministische Gruppe Femin, deren Kritik ihr den Hauptteil eurer Broschüre gewidmet habt, sei „getrieben von der Suche nach Macht und Autorität“ (S. 39). Diese Feministinnen versuchten, „mit halbgaren ideologischen Texten ihre Anerkennung in der Szene zu verankern, um so Anhänger:innen zu finden, die sie dann verwalten und kontrollieren können“ (S. 39f.). Würde man Femin jedoch für ihre Inhalte und Vorgehensweisen tadeln, wie z.B. ihr das getan habt, so müsse man damit rechnen, von diesen „jahrelang in der Kritik ignoriert zu werden“ (S. 5).
Das „Machtgefälle“ innerhalb der feministischen Szene habe euch, „die rebellischen Schüler:innen“, jedoch nicht daran gehindert, zum „Demoschwänzen“ aufzurufen und so die Macht der autoritären „Lehrer:innen“ von der Demo-Orga herauszufordern (S. 7). Die „Führung“ habe sich durch euer aufmüpfiges Verhalten „provoziert“ gefühlt; sie wolle Konkurrenz nicht dulden und sei der Meinung, dass diese „entweder ausgemerzt oder vereinnahmt werden“ müsse (S. 7). Ihr jedoch seid mit eurer Aktion recht zufrieden: Diese habe auch „anderen Luft zum Atmen gegeben“ und „einen Korridor geschaffen, in dem bewegungsinterne Kritik geäußert werden kann.“ (S. 7) Ihr erzählt hier eine erbauliche Geschichte von bedrückender Autorität und mutigem Widerstand. Nur leider ist fast nichts davon wahr. Das 8.-März-Bündnis ist keine ominöse „Szeneführung“, sondern lediglich ein loser Zusammenschluss verschiedener Gruppen zur Organisation einer Demonstration. Es beansprucht keine Autorität und es existiert auch kein „Machtgefälle“ zwischen der AGDO und der Demo-Orga bzw. Femin. Inhaltlich ist das Bündnis pluralistisch: Niemand hat versucht, euch seine Vorstellungen von Feminismus aufzudrücken oder euch an der Äußerung eurer Gedanken zu hindern. Vielmehr umgekehrt: Ihr von der AGDO habt Stimmung gegen Femin gemacht und versucht, deren Inhalte aus dem Demo-Bündnis herauszudrängen. Als euch das nicht gelungen ist, habt ihr freiwillig das Bündnis verlassen und stattdessen zum „Demoschwänzen“ aufgerufen. Es stimmt auch nicht, dass Femin Kritik aus der Szene ignorieren würde: Auf mindestens zwei Treffen, bei denen ihr anwesend wart, sind sie zu den gegen sie geäußerten Vorwürfen Rede und Antwort gestanden und haben ihre Position erläutert. (1) Und natürlich hat das 8.-März-Bündnis nicht die Absicht oder die Mittel, irgendwen für das Fernbleiben von ihrer Veranstaltung zu sanktionieren – was die Stilisierung eures Demo-Boykottaufrufs zum rebellischen „Schulschwänzen“ ziemlich albern macht.
Es handelt sich hier meines Erachtens um eine klassische Projektion: Ihr selbst möchtet euch unliebsame Vorstellungen von Feminismus ausgrenzen bzw. „ausmerzen“, schiebt diesen Wunsch aber euren Gegnerinnen unter. Dadurch könnt ihr dann eure aggressive Kampagne gegen Femin als Akt der Selbstverteidigung einer unterdrückten Minderheit darstellen und mit gutem Gewissen umso hemmungsloser gegen diese losschlagen.
Was genau sind jedoch die Inhalte von Femin, die euch derart in Rage bringen? Es geht im Wesentlichen um drei Vorwürfe:
Euer zentraler Kritikpunkt an Femin in diesem Zusammenhang ist, dass die Gruppe „die Selbstbestimmung der Sexarbeiter:innen bestreitet“. (S. 19) Ihr stellt klar: „Kein anderer Mensch als die Menschen selbst können sagen, wann etwas für sie Konsens war bzw. ist oder nicht.“ (S. 19) Es sei daher eine autoritäre Anmaßung, über fremde Leute zu sagen, sie seien fremdbestimmt.
Wie aber ist es um die Selbstbestimmung unter den herrschenden Verhältnissen bestellt? Ihr selbst betont, dass es ein „integraler Bestandteil des staatlich kapitalistischen Systems“ sei, „Menschen durch die Polizei, Gefängnisse und das Eigentumssystem zu Dienstleistungen zu zwingen“ – und dies sei zweifellos „unmoralisch“ (S. 18). Andererseits sei es aber so, dass die Menschen innerhalb dieser Verhältnisse unterschiedlich mit den Zwängen umgehen könnten und es daher durchaus „einen tatsächlichen und ehrlich erkauften Konsens“ (S. 18) gebe. „Ehrlich erkaufter Konsens“ – das ist im Grunde genau die Argumentation, die die liberalen Kapitalisten – und zu denen zählen auch die „ehrenwerten“ Zuhälter – seit jeher bemühen: „Wir sind ja keine Sklaventreiber“, sagen sie, „unsere Mitarbeiter:innen haben sich aus freien Stücken für dieses Arbeitsverhältnis entschieden; wenn es ihnen nicht gefällt, können sie jederzeit kündigen und sich eine andere Beschäftigung suchen“.
Tatsächlich haben Lohnarbeiter:innen unter kapitalistischen Bedingungen prinzipiell die Möglichkeit, sich ihre Tätigkeit selbst auszusuchen. Es ist aber der springende Punkt materialistischer Kapitalismuskritik, dass diese formale Freiheit verbunden ist mit dem strukturellen Zwang, durch „Polizei, Gefängnisse und Eigentumssystem“ von den Produktionsmitteln getrennt zu sein und daher seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen, um zu überleben. In den meisten Fällen müssen wir uns das, wozu wir aufgrund der Verhältnisse gezwungen sind, auch irgendwie subjektiv zu eigen machen und „wollen“, da die Tristesse der Lohnarbeit sonst auf Dauer schwer aushaltbar ist. Wenn Kapitalismuskritiker:innen darauf hinweisen, dass echte „Selbstbestimmung“ für die Lohnarbeiter:innen eine Illusion ist, dann tun sie das nicht, weil sie „auf den freien Willen von Menschen scheiß[en]“ (S. 18), wie ihr das Femin unterstellt, sondern weil sie die Verhältnisse umstürzen wollen, die wirkliche Freiheit verunmöglichen. Mit eurer Überhöhung der „Selbstbestimmung“ und dem Herumreiten auf dem „freien Willen“ der Menschen reproduziert ihr einen zentralen Bestandteil bürgerlicher Ideologie.
Nun ist es natürlich so, dass das Verhältnis von formaler Freiheit und strukturellem Zwang verschiedene Ausprägungen hat; in manchen gesellschaftlichen Positionen ist das Ausmaß persönlicher Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten größer als in anderen. Das gilt auch für die Erotikbranche: Neben dem Elend der Armutsprostitution gibt es hier durchaus einige Leute, die z.B. als Escorts oder im Rahmen erotischer Onlinedienste einer relativ selbstbestimmten Tätigkeit nachgehen. Wenn man sich euren Text durchliest, bekommt man schnell einen Ahnung davon, welcher von diesen Gruppen eure Aufmerksamkeit gilt: Ihr betont immer wieder die Freiwilligkeit der Tätigkeit, sprecht vom „freien Konsens“ (S. 19) zwischen „Sexarbeiter:innen“ und ihren Kunden, betont, dass „Sexarbeit sich erstmal nicht von anderen Dienstleistungen unterscheidet, wie z.B. Massage, Haushaltshilfe, Therapie“ (S. 30), zählt als Beispiele für Sexarbeit den „Dreh von Pornos, Camshows, Hotlines, Bilder, Escort, Sexualbegleitung, Massage usw.“ (S. 37) auf. Eher beiläufig wird eingeräumt, dass es „selbstverständlich auch Menschenhandel und Zwangsarbeit gibt“ und zugleich versichert: „Das ist keine Sexarbeit“ (S. 19). Worum es euch geht, sind vornehmlich die relativ privilegierten Arbeitsbedingungen einer kleinen Zahl von „Sexarbeiter:innen“ aus der Mittelschicht bzw. dem studentischen Milieu, die aber mit dem Schicksal der breiten Masse der in der Prostitution Tätigen hierzulande und erst Recht im internationalen Maßstab wenig zu tun haben. Damit verharmlost ihr den Horror der globalen Sexindustrie.
Weiter kritisiert ihr, dass Femin das „nordische Modell“ befürwortet. Dieses sei autoritär, weil es auf staatliche Verbote setze. Nun kann man am „nordischen Modell“ durchaus berechtigte Kritik üben. Ich selbst habe dazu keine abschließende Meinung, weil ich mich noch zu wenig damit beschäftigt habe. Aber fairerweise hättet ihr erwähnen sollen, dass sich Femin gegen autoritäre Maßnahmen wie z.B. Abschiebungen ausspricht, die mit diesem Modell einhergehen können und zugleich für die Bereitstellung ernsthafter Ausstiegsperspektiven für Prostituierte plädiert – und dass sie dieses Modell lediglich als begrenzte Reform innerhalb der bestehenden Verhältnisse und nicht als der Weisheit letzten Schluss betrachten.
Was aber ist die Alternative, die ihr diesem Modell entgegensetzt? Ihr sagt es nicht explizit, aber man kann es aus eurer Argumentation herauslesen: Es ist das seit den frühen 2000ern liberalisierte deutsche Modell, das die BRD in den letzten Jahrzehnten zum „Bordell Europas“ gemacht hat. Ihr schreibt, man solle sich von antiquierten, romantischen Vorstellungen verabschieden, für die der „soziale und zwischenmenschliche Kontext“ der Sexualität etwas irgendwie „Heiliges“ darstelle (S. 30). Man solle die Sache nüchtern und moralfrei betrachten und die „Sexarbeit“ als eine normale Dienstleistung unter anderen auffassen. Nicht anders sieht es der deutsche Staat, der die Prostitution seit 2002 nicht mehr als „sittenwidrig“ einstuft und sie als normales Arbeitsverhältnis anerkennt, für das auch – zumindest in der Theorie – bestimmte Arbeitnehmer:innenrechte inklusive eines einklagbaren Lohnes gelten. Diese Legalisierung erleichtert es möglicherweise auch, dass Prostituierte sich organisieren und selbst für die Interessen innerhalb ihres Berufsstandes einstehen – eine Perspektive, die ihr ja zu befürworten scheint.
Man kann nun sicher lange darüber streiten, ob das nordische oder das deutsche Modell bessere Voraussetzungen bietet, das Elend der Prostituierten zu lindern – aber es ist klar, dass beide staatlichen Zwang als Rahmen voraussetzen. Ihr solltet daher nicht so moralisch über Femin schimpfen, sie würden die Staatsautorität befürworten – das fällt auf euch selbst zurück. Und vor allem: Werft Leuten, die ein Sexkaufverbot befürworten, nicht vor, „sexarbeiter:innenfeindlich“ zu sein – das ist ungefähr so geistreich, wie Gegner:innen von Kinderarbeit zu unterstellen, sie seien „kinderfeindlich“.
Ihr habt euch mit dem Grundlagentext von Femin beschäftigt und seid zu dem Schluss gekommen, dass sich in diesem eine feindselige Haltung gegenüber Transpersonen ausdrücke. Was ist dran an diesem Vorwurf? – Bei der Lektüre der Femin-Broschüre fällt auf, dass die spezifischen Erfahrungen von Menschen, die wegen ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung diskriminiert werden, tatsächlich nur am Rande thematisiert werden. In einem Text, der sich so ausführlich mit dem Patriarchat und seinen Auswirkungen beschäftigt, wäre ein gesondertes Kapitel über die Situation von Transpersonen und Queers sicherlich sinnvoll gewesen. Ich würde diesen Mangel jedoch nicht als Ausdruck einer Feindseligkeit, sondern eher als eine Unausgewogenheit der Schwerpunktsetzung betrachten. Dennoch wäre es eine sachliche und nachvollziehbare Kritik, diesbezüglich auf eine Leerstelle hinzuweisen.
Aber darum geht es euch nicht, oder jedenfalls nicht in erster Linie. Es geht euch generell recht wenig um die Inhalte der Femin-Schrift. Ihr habt nicht versucht, ihren Gedankengang nachzuvollziehen, um diesen dann zu beurteilen. Vielmehr habt ihr den Text nach Begriffen und Formulierungen gescannt, die euren Vorstellungen widersprechen. Und ihr seid fündig geworden. So gefällt es euch nicht, dass Femin das Wort „Frau“ benutzt und von „spezifisch weiblichen“ Unterdrückungserfahrungen spricht. Femin „schließt deshalb im Großteil ihrer Analyse andere Menschen, die vom Patriarchat betroffen sind, aus“ (S. 46) bzw. behauptet, dass „z.B. trans Männer und andere vom Patriarchat betroffene Menschen keine patriarchale Gewalt erleben.“ (S. 44) Dies sei transfeindlich. – Vielleicht bin ich an dieser Stelle etwas begriffsstutzig, aber meines Erachtens ergibt das Argument schon auf einer sprachlogischen Ebenen keinen Sinn: Warum soll ich, wenn ich über die Sorgen einer bestimmten Gruppe aufgrund des Patriarchats spreche, damit ausschließen, dass auch andere Personen schlechte Erfahrungen mit dem Patriarchat haben? Wenn ich sage, „Hans hat Franz geschlagen“, schließe ich damit aus, dass er möglicherweise auch Ayşe und Ferdinand übel mitgespielt hat?
Wie dem auch sei, jedenfalls schlagt ihr vor, man solle die inklusivere Bezeichung FLINTA benutzen, um alle patriarchal diskriminierten und ausgebeuteten Menschen in die Rede mit einzuschließen. In manchen Kontexten mag das sinnvoll sein – wenn ich auch persönlich diese bürokratische Abkürzung nicht mag und stattdessen lieber schlicht „alle vom Patriarchat unterdrückte Menschen“ schreiben würde.
Aber die Unterdrückungserfahrungen sind eben nicht immer deckungsgleich. Nehmen wir als Beispiel einen Transmann, der sich einer körperlichen Transition unterzogen hat und nun in den meisten Kontexten als Mann durchgeht oder, wie ihr wahrscheinlich sagen würdet, „gelesen wird“. Er würde wohl kaum etwas von dem Alltagssexismus erfahren, dem die meisten Frauen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind. Umgekehrt hat er sehr wahrscheinlich im Zuge seines Outings, seiner Transition etc. Anfeindungen erfahren, mit denen eine Cis-Frau niemals konfrontiert wäre. Es ist also durchaus sinnvoll und notwendig, von „spezifischen“ Erfahrungen bestimmter Untergruppen der Unterdrückten zu sprechen. Normalerweise wird das auch von niemandem als Problem angesehen, nur in Bezug auf Frauen soll man es seltsamer Weise nicht dürfen.
Dies hat politische Folgen. Die Hälfte der Menschheit wird unterdrückt, ausgebeutet, ihrer Selbstbestimmung beraubt, weil sie Frauen sind. Wenn Frauen aber nur noch als Bestandteil eines sperrigen Abkürzungskonstrukts vorkommen dürfen, so fällt es auch schwerer, diese wirkmächtige Realität in Worte zu fassen, gemeinsame Erfahrungen zu thematisieren, spezifisch weibliche Interessen zu artikulieren und Frauen anhand dieser Themen anzusprechen und zu mobilisieren.
Womit wir beim nächsten Punkt wären. Ihr seid nicht nur der Meinung, dass man das Wort „Frau“ aus dem Vokabular des Feminismus streichen solle. Ihr findet es auch falsch, wenn Frauen sich als Frauen organisieren. Dass Femin Frauen als ihre „Zielgruppe“ sieht, ist nach eurem Verständnis ebenfalls „transfeindlich“, weil es andere unter dem Patriarchat leidende Menschen ausschließe (S. 46). Ihr sprecht euch dagegen für eine inklusive feministische Bewegung aus, in der alle sexistisch Unterdrückten Seite an Seite für ihre Befreiung kämpfen. Das ist ein vernünftiges Ziel: Wir sollten danach streben, unser Kämpfe zu verallgemeinern und möglichst viele Gruppen der Unterdrückten zu vereinen. Aber in der Realität ist das häufig nicht so einfach. Wie schon erwähnt, sind die Interessen der Unterdrückten nicht immer dieselben. Meist entzünden sich Kämpfe an konkreten Missständen, von denen erst einmal nur bestimmte Gruppen von Menschen betroffen sind. Zuweilen entwickeln bestimmte Untergruppen der Unterdrückten das Bedürfnis, sich zunächst unter sich auszutauschen und zu organisieren. Das ist nicht nur bei Kämpfen gegen das Patriarchat der Fall, sondern zum Beispiel auch bei antirassistischen Kämpfen. Sprechen diese Gruppen damit notwendig anderen Gruppen ihre spezifischen Unterdrückungserfahrungen ab und sind diesen feindlich gesinnt? Natürlich nicht! Im besten Fall können sie sich in einem zweiten Schritt mit anderen unterdrückten Gruppen vernetzen und gemeinsame Kämpfe beginnen. (Oder sie geben sich gleich einen weiter gefassten organisatorischen Rahmen. Aber diese Entscheidung überlässt man am besten den jeweiligen Aktivist:innen selbst.) Meist werden solche spezifischen Organisierungen als völlig legitim angesehen. Oder würdet ihr der Dortmunder Gruppe TransAction Cis-Feindlichkeit vorwerfen, weil ihre Zielgruppe offensichtlich Transleute sind? Oder einer schwarzen Frauengruppe Rassismus gegen Weiße? Auch FLINTA-Gruppen lehnt ihr nicht ab, obwohl diese ebenfalls per Definition bestimmte Leute „ausschließen“.
Lediglich den Frauen bestreitet ihr das Recht, sich autonom zu organisieren. Das hat euch – wenig überraschend – den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit eingebracht. Ihr wollt das nicht so stehen lassen und erklärt daher: „Wir plädieren in diesem Zusammenhang selbstverständlich für das Recht marginalisierter Gruppen, sich autonom zu organisieren. Wichtig ist dabei für uns, den Kontext und die Machtstrukturen zu beleuchten.“ (S. 58) Wenn sich „eine marginalisierte Gruppe innerhalb einer emanzipatorischen Bewegung aufgrund von Diskriminierungserfahrungen autonom organisiert, wie z.B. eine Trans-Gruppe innerhalb einer feministischen Bewegung“ (S. 58), so sei dies zu begrüßen. „Wenn sich jedoch eine Gruppe mit einer dominanten Identität innerhalb einer emanzipatorischen Bewegung autonom organisiert, erleben wir das als Rückschritt und kritisieren das.“ (S. 58)
Zunächst bringt ihr hier selbst den Kontext durcheinander. Es geht Femin keineswegs darum, sich „innerhalb einer emanzipatorischen Bewegung“ von irgendwelchen Leuten abzugrenzen. Die örtliche „feministische Bewegung“ oder vielmehr Szene interessiert sie nur am Rande; in erster Linie wollen sie mit Menschen außerhalb der Szene in Kontakt kommen und revolutionäre Stadteilarbeit machen. In diesem Zusammenhang haben sie die strategische Entscheidung getroffen, eine Sprache zu verwenden, die von ihrer Zielgruppe verstanden wird. Die Erfahrung zeigt, dass sich Frauen und Mädchen ohne Szenebezug in der Regel nicht angesprochen fühlen, wenn man ein Angebot z.B. als „FLINTA-Raum“, „FLINTA-Gruppe“ oder Ähnliches bezeichnet. Sexuelle Minderheiten sind aber im Frauen- und Mädchentreff Lyra und auf den Veranstaltungen von Femin willkommen. All das ist euch bekannt: Wie oben erwähnt, hat es Treffen mit Femin gegeben, wo diese euch ihre Herangehensweise erläutert haben. Es handelt sich also nicht um ein Missverständnis, sondern um eine bewusste Verdrehung der Tatsachen, wenn ihr Femin weiterhin irgendeine ausschließende Absicht andichtet.
Eure Sichtweise scheint mir von der Theorie der Intersektionalität (2) beeinflusst. Dieser Ansatz wurde ursprünglich entwickelt, um besser zu verstehen, wie unterschiedliche Unterdrückungsverhältnisse sich überlagern und aufeinander einwirken. Mittlerweile ist er weitgehend zu einer Art moralistischem Privilegien-Ranking verkommen, welches Leuten aufgrund ihrer „Sprecher:innenposition“ den Mund verbieten oder, wie in eurem Fall, die Legitimität der autonomen Organisierung bestreiten möchte. Ein zentraler Glaubenssatz des neueren Intersektionalismus besagt, dass Transpersonen generell stärker unterdrückt würden als Cis-Frauen. In dieser Pauschalität erscheint mir das sehr fragwürdig – zu unterschiedlich sind die konkreten Lebensverhältnisse verschiedener Leute innerhalb dieser Gruppen. Und selbst wenn es stimmen sollte, leuchtet nicht ein, was daran „rückschrittlich“ sein soll, dass Cis-Frauen, die ja ebenfalls gesellschaftlich diskriminiert werden, sich mir ihresgleichen zusammenschließen und für ihre Interessen einstehen. Unterm Strich muss man sagen, dass ihr beim Versuch, euch gegen den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit zu verteidigen, diesen erst recht bekräftigt.
Ihr kritisiert, dass Femin einen „Massenansatz“ verfolgt. Dies sei falsch, weil die Massen sich in einem verkehrten Zustand der sozialen Organisation befänden. Wenn man sich in der politischen Arbeit an sie richte, würde man die bestehende Gesellschaftsordnung reproduzieren. Um dies zu erläutern, habt ihr ein hübsches Zitat herausgesucht, das sich gut als Ausgangspunkt eignet, um die Frage der Massenpolitik etwas genauer zu betrachten. „Die Masse ist ein Aggregat von Paaren, die getrennt, losgelöst und anonym sind. Sie leben in Städten, die räumlich nahe beieinander liegen, aber sozial getrennt sind. Ihr Leben ist privatisiert und verkommen.“ (S. 56) Als wesentliche Eigenschaft der Masse wird hier die Vereinzelung herausgestellt. Die Massengesellschaft zerfällt in unzählige kleine Blasen, die voneinander isoliert sind. Wichtig ist, sich klarzumachen, dass wir selbst auch Teil der Masse sind. Auch das Milieu des Black Pigeons (3) oder des Union Salons bilden solche Blasen – zunächst nicht viel anders als Kleinfamilien, Gamer-Communities oder Kleingartenvereine.
Der Grundgedanke einer wohlverstandenen Massenpolitik in der sozialistischen und anarchistischen Arbeiter:innenbewegung bestand nun seit jeher darin, dass diese isolierten Blasen miteinander in Kontakt geraten müssen. Lohnabhängige verschiedener Konfessionen, Nationalitäten, Milieus usw. lernen einander kennen, tauschen sich aus, entdecken sich überschneidende Interessen, beginnen, sich gemeinsam zu organisieren. In diesem Prozess wird die Isolierung überwunden und die Masse hört auf, Masse zu sein. Sie emanzipiert sich zur Klasse, das heißt, sie gewinnt ein Bewusstsein ihrer kollektiven Stärke und beginnt, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Es ist also gerade nicht so, dass Massenpolitik die Menschen und die Gesellschaft so lassen möchte, wie sie ist, vielmehr zielt sie auf eine kollektive Selbstveränderung ab. Die politischen Aktivist:innen möchten diesen Prozess anregen, vertiefen und beschleunigen, aber sie sind nicht diejenigen, die bereits fertige Konzepte haben, die sie den Unorganisierten predigen. Vielmehr müssen sie selbst wie alle anderen Teile der Masse erst einmal aus der Isolierung herauskommen und haben von Leuten aus anderen Blasen mindestens so viel zu lernen wie umgekehrt.
Das Milieu rund um den Union Salon, zu dem die Gruppe Femin gehört, versteht ihre Politik in dieser Tradition; diese Leute bemühen sich ernsthaft und auf vielfältige Weise um Kontaktaufnahme und Austausch mit anderen Menschen aus ihrem Viertel und haben dabei, soweit ich es mitbekomme, durchaus vielversprechende erste Erfolge.
Ihr dagegen scheint einen anderen Ansatz zu verfolgen. Ihr schreibt: „Beziehungen sind für uns Anarchist:innen die Grundlage einer Gesellschaft. Und die Beziehungen, die wir z.B. in unseren Kollektiven und Gruppen leben und etablieren, werden später, die befreite Gesellschaft ausmachen.“ Ihr meint also, in eurer Blase bereits beispielhaft die freien Verkehrsformen der zukünftigen Gesellschaft vorweggenommen zu haben. Ihr müsstet demnach nur noch quantitativ wachsen und andere in euren Sumpf hineinziehen. Ich finde das etwas verwunderlich: Da ich vor ein paar Jahren öfters im Black Pigeon verkehrte und Gelegenheit hatte, die dort herrschenden Sitten ein wenig kennenzulernen, scheint mir eine nach diesem Bilde geformte „befreite Gesellschaft“ eher ein trister Ort zu sein. Nichtsdestotrotz gebt ihr euch recht überzeugt von eurer Lebensart und Weltsicht. Ihr scheint nicht so sehr das Bedürfnis zu verspüren, von anderen zu lernen und euch weiterzuentwickeln. Deshalb misstraut ihr Leuten, die anders denken als ihr, z.B. in Sachen Feminismus. „Der Begriff FLINTA ist in der feministischen Bewegung mittlerweile Standard“ (S. 48) schreibt ihr, und deshalb sollen sich gefälligst auch alle an diesen Standard halten. Ihr überseht, dass dies keineswegs der „Standard“ der gesamten feministischen Bewegung ist, sondern lediglich der euer eigenen Subszene. Das elitäre Politikverständnis, mit dem Femin oder die 8.-März-Orga laut eurer Darstellung anderen ihre Vorstellungen aufdrücken wollen, ist in Wahrheit euer eigenes.
Ihr schreibt: „Für ein Ökosystem der Revolte. Für eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und mit gegenseitigem Respekt. Wir wollen nicht, dass ihr uns hinterher rennt, sondern, dass ihr selbst denkt und eure eigenen Analysen und Praktiken entwickelt.“ (S. 40) Das ist ein schöner Gedanke. Nehmt das doch selbst ein wenig ernster. Wenn man euren Text liest, bekommt man den Eindruck, ihr wollt das Ökosystem des Feminismus in eine Monokultur verwandeln, in der nur Gewächse existieren dürfen, die einem AGDO-geprüften Standard entsprechen.
Mir scheint, dass ihr sehr stark moralisch aufgeladene Vorstellungen davon habt, wie Feminismus zu sein hat, bzw. was man als Feministin auf keinen Fall sagen oder tun darf. Ich würde euch empfehlen, einmal tief durchzuatmen und zu prüfen, ob es nicht möglich ist, ein wenig toleranter und weltoffener zu sein. Denn mit einer solchen Geisteshaltung schadet ihr nicht nur anderen, ihr steht euch auch selbst im Weg: Sie behindert die aufmerksame Wahrnehmung und das logischen Denken. (Ich weiß, wovon ich spreche, ich kenne dieses Mindset aus meiner Zeit bei den Antideutschen.)
Warum kann es kein feministisches Ökosystem geben, in dem die einen für ein Sexkaufverbot und die anderen für eine möglichst weitgehende Legalisierung des Prostitutionsgewerbes sind – und beide sind sich einig in dem Ziel, die Not der Prostituierten so weit als möglich zu lindern und perspektivisch ganz zu überwinden? Wäre es nicht möglich, dass in diesem Ökosystem verschiedene Ansätze existieren, die unterschiedliche Begriffe verwenden und Zielgruppen haben und die sich produktiv streiten können, gerade weil sie sich in dem letztendlichen Ziel einig sind – der Befreiung aller Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung? Ich denke, eine solche Herangehensweise würde zu eurem Selbstverständnis viel besser passen als euer verbissener Kreuzzug gegen Femin.
Beste Grüße
Alfred Masur, im Juni 2025
(1) Beim Nachbereitungstreffen zur anarchistischen 1. Mai-Demo 2022 und in einem moderierten Gespräch im Rahmen des 8.-März-Bündnisses 2024.
(2) Es gibt mittlerweile zahlreiche Texte, die sich aus einer linken Perspektive kritisch mit dem Ansatz der Intersektionalität auseinandersetzen. Einen guten Einstieg bietet z.B. Eszter Kováts: Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen. Eine Kritik an heutiger Praxis der Intersektionalität, in: Till-Randolf Amelung (Hg.): Irrwege. Analysen aktueller queerer Politik, Berlin 2020, S. 87-105.
(3) Das Black Pigeon ist das anarchistische Zentrum in Dortmund, in dem sich die AGDO trifft.