Die Sonne steht über der Berliner Innenstadt am 26. November 2019 und die Straßen sind voll. Sehr voll. Doch damals sind es noch nicht die Aktivist:innen der Letzten Generation, die sie blockieren, um auf ihre aussichtslose Lage in dieser Welt aufmerksam zu machen. Es sind achttausend Traktoren, die...
Ich glaube, ich bin mit den Macher:innen und Leser:innen von anarchismus.de darin einig, dass sich Anarchist:innen stärker mit den Kämpfen der arbeitenden Klasse und weniger mit sich selbst beschäftigen sollten. Tatsächlich sollte uns der Agrarsektor daher einen gewissen Grund zum Optimismus geben: In den letzten Jahren haben Anarchist:innen in ganz Europa Kämpfe von Landarbeiter:innen unterstützt. In Deutschland hat wohl der wilde Streik in Bornheim https://bonn.fau.org/schwerpunkte/arbeitskampf-bei-spargel-ritter/ die meiste Aufmerksamkeit erregt. In England wurden auf einer Farm Arbeiter:innen aus Osteuropa von mafiösen Strukturen unter sklavenähnlichen Bedingungen festgehalten. Syndikate der IWW und der Solidarity Federation arbeiteten zusammen, um einen Konvoi zu organisieren, mit dem die Arbeiter:innen von der Farm gerettet werden konnten. Es gibt sicherlich noch viele weitere Beispiele konkreter Kämpfe, von denen ich nichts weiß. https://www.rosalux.de/en/publication/id/41102/slaves-in-europes-fields Dieser kurze Abriss zeigt: Gerade der Agrarsektor scheint ein gesellschaftliches Feld zu sein, in dem Anarchist:innen ihre ewige Beschäftigung mit sich selbst unterbrechen, um die Kämpfe der Ausgebeuteten zu unterstützen.
Das liegt wohl leider nicht nur daran, dass anarchistische Gruppierungen hier besonders entschlossen und organisiert auftreten. Dass es in ganz Europa so viele wilde Kämpfe gegen die Ausbeutung im Agrarsektor gibt, liegt daran, dass hier die Ausbeutung im Vergleich zu anderen Wirtschaftssektoren besonders krass ist. Ökonomisch gesehen hat das einen einfachen Grund: Die Waren, die der Agrarsektor produziert, sind Lebensmittel. Der Lohn, den man Arbeiter:innen in anderen Sektoren bezahlt, wird zu einem wesentlichen Teil dazu benutzt, um Lebensmittel zu kaufen. Wenn nun die Lebensmittel besonders billig sind, kann also in allen anderen Wirtschaftssektoren ein niedrigerer Lohn bezahlt werden, ohne dass die Leute revoltieren. Weil sie sich die billigen Lebensmittel ja noch leisten können, sich also subjektiv nicht arm fühlen, obwohl die Entwicklung der Löhne etwas anderes belegt. Das führt in fast allen kapitalistischen Ökonomien dazu, dass ein Druck existiert, Lebensmittel besonders billig herzustellen.
Dieser Druck wird durch die Unternehmer:innen in der Landwirtschaft aufgelöst, indem sie besondere Fraktionen der Arbeiter:innenklasse einsetzen: Menschen, die die Landessprache nicht sprechen, die nicht informiert sind, welche Arbeitsrechte sie theoretisch haben, die ausgegrenzt werden, die nicht in Gewerkschaften sind, die keine Unterstützungsnetzwerke haben oder die schlicht und ergreifend keine Wahl haben. Die bäuerlichen Betriebe sind hierbei nicht die Opfer, sondern Kompliz:innen.
In Süd- und Nordeuropa werden dafür unterschiedliche Menschengruppen herangezogen. In Südeuropa ist die Landwirtschaft mit dem europäischen Migrationsregime verzahnt. Wer die Überfahrt über das Mittelmeer überlebt und der von der EU geförderten libyschen Küstenwache und ihren Folterlagern https://www.spiegel.de/ausland/libyen-wie-frontex-hilft-fluechtlinge-in-folterknaeste-zurueckzuschleppen-a-e80e275d-0002-0001-0000-000177330683 entkommt, landet dann oft pleite und ohne Papiere in Spanien, Italien oder Griechenland. Viele Geflüchtete leben dort in Slums und gehen auf den sogenannten "Arbeiterstrich", werden von vorbeifahrenden Bäuer:innen eingesammelt und mit auf die Plantagen genommen. Die Arbeit dort ähnelt der Plantagensklaverei vergangener Jahrhunderte. Die Plantagen werden von der EU mit Milliarden subventioniert. https://interaktiv.br.de/dreckige-ernte/
In Nordeuropa funktioniert die Überausbeutung in der Landwirtschaft etwas anders, da Deutschland, Holland und England bekanntlich nicht ans Mittelmeer grenzen. Aber auch hier gibt es besonders isolierte und vulnerable Gruppen der Arbeiter:innenklasse, die bevorzugt in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Es sind die sogenannten "Erntehelfer:innen" aus Ländern wie Polen, Rumänien und Bulgarien. Die Arbeitsverhältnisse auf den Höfen sind geprägt von Verstößen gegen geltendes Arbeitsrecht, Lohndiebstahl, überbelegten Wohnquartieren, Wachdiensten aus dem Rockermilieu, schlechter Essensversorgung und mangelnder medizinischer Versorgung. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/daniela-reim-wanderarbeiter-1.4194226 Zur Zeit der Coronapandemie wurden deutsche Spargelhöfe durch die sogenannte "Arbeitsquarantäne" endgültig zum Internierungslager. Arbeiter:innen aus Osteuropa wurden unter falschen Versprechungen auf deutsche Höfe gelockt und hier unter "Arbeitsquarantäne" gestellt, das heißt, dass sie von der Polizei auf den Höfen eingesperrt wurden und ihre Unterkünfte nur noch zum Arbeiten verlassen durften. https://taz.de/Arbeitsquarantaene-auf-Spargelhof/!5765810/
In der Landwirtschaft verzahnen sich Rassismus und Kapitalismus. Bei dieser besonderen Ausbeutung des rassistisch diskriminierten Teils der Arbeiter:innenklasse spricht man von Überausbeutung. Grundsätzlich wird jede Lohnabhängige im Kapitalismus ausgebeutet, bei rassistisch diskriminierten Gruppen kann es aber zu Ausbeutung über das normale Maß hinaus kommen, da diese sich schlechter wehren können. In der Landwirtschaft hat diese Überausbeutung System und wird von staatlichen Akteuren wie der EU und der Bundesrepublik aktiv gefördert. Denn die Überausbeutung in der Landwirtschaft sorgt dafür, dass die Lebensmittel billig sind, also der Preis der Arbeit auch bei den normal Ausgebeuteten niedrig gehalten werden kann, und somit die Produktion in Deutschland oder der EU international konkurrenzfähig bleibt. Daher ermöglichen es staatliche Institutionen den Bäuer:innen systematisch, gegen Schutzrechte zu verstoßen, die für andere Branchen gelten, wie Arbeitsschutzgesetze, den Mindestlohn oder schlicht und ergreifend grundlegende Menschenrechte. In der Praxis wird der Rahmen der Überausbeutung als enge Zusammenarbeit zwischen den Lobbyorganisationen der deutschen Bauernschaft und den Parteien, insbesondere der CDU, organisiert. https://www.nabu.de/natur-und-landschaft/landnutzung/landwirtschaft/agrarpolitik/26321.html Der Deutsche Bauernverband ist die einflussreichste Agrarlobby in Deutschland und damit eine der brutalsten Säulen von Klassenherrschaft und Ausbeutung in diesem Land.
Da muss man sich doch etwas wundern, dass auf anarchismus.de durch das Kollektiv Fachwerkhütte ein Text veröffentlicht wurde, der die Tatsachen verdreht. Die Fachwerkhütte fordert, dass wir nicht mit den Arbeiter:innen in der Landwirtschaft solidarisch gegen Ausbeutung kämpfen sollen. Stattdessen sollen wir mit den Unternehmer:innen, also den Bäuer:innen, gegen zu viele Umweltgesetze und die Grünen vorgehen. Dabei bedient sich die Fachwerkhütte eines einfachen Tricks: Sie verdrehen, wer in der Landwirtschaft Arbeiter:in ist und wer Unternehmer:in. Dazu ziehen sie den Klassenbegriff auf eine kulturelle Ebene. Bäuer:innen werden als "echte Proletarier" dargestellt, die eben einfach und direkt reden und von den feinen linken Schnöseln aus der Stadt verachtet werden. Aber halt. Beuten die linken Schnösel aus der Stadt die einfachen "Familienunternehmer:innen" vom Land aus, wenn sie billige Erdbeeren aus Spanien und billigen Spargel kaufen? Oder sind die Ausgebeuteten nicht doch diejenigen, die für die "Familienunternehmer:innen" arbeiten, die die Erdbeeren pflücken und den Spargel ernten?
Eine "Familienunternehmer:in", die Produktionsmittel besitzt und andere mit diesen für sich arbeiten lässt, ist nicht Proletarierin, sondern Kapitalistin. Wenn auch vielleicht eine kleine. Proletarier im deutschen Agrarsystem sind die "Erntehelfer:innen", also die Landarbeiter:innen aus Rumänien, Polen, Georgien und der Ukraine, die die schwere Arbeit machen, zumeist außerhalb der Bedingungen des deutschen Arbeitsrechts. Und denen die dafür benutzten Produktionsmittel eben nicht gehören. Diese Verhältnisse sind ein wesentlicher Grund dafür, dass Rassismus in der deutschen Bauernschaft so verbreitet ist. Weil die Gewinne in der deutschen Landwirtschaft unmittelbar auf rassistischer Überausbeutung basieren. Mit reiner Kulturarbeit, wie sie die Fachwerkhütte vorschlägt, wird man gegen diesen ökonomisch motivierten Rassismus auf dem Land nicht ankommen.
Die Bäuer:innen und ihr Bauernverband sind eine der mächtigsten Unternehmer:innengruppen in Deutschland. Es werden systematisch beide Augen zugedrückt, wenn es um Verstöße gegen Arbeitsrecht in der Landwirtschaft geht, beispielsweise beim Thema Akkordlohn und Mindestlohnunterschreitung https://taz.de/Knochenarbeit-unter-dem-Mindestlohn/!5833515/ oder bei der Anmeldung von Erntehelfer:innen zur Rentenversicherung oder Krankenversicherung https://arbeitsunrecht.de/arbeitsunrecht-fm-4-22-union-busting-news-mit-jessica-reisner/.
Das ist Klassenjustiz. Wer von Klassenjustiz profitiert, ist mit Sicherheit keine Proletarier:in.
Aber einen Konflikt zwischen Politik und Bauernschaft gibt es doch. Schließlich fordert die Fachwerkhütte uns auf, uns mit den Bauern gegen die Grünen zu verbünden. Keine Sorge, es geht nicht um die Überausbeutung. Die wollen auch die Grünen nicht abschaffen. Es geht um zu viel Scheiße im Trinkwasser. Die Fachwerkhütte fordert, dass wir als Anarchist:innen uns mit den Forderungen des Bauernverbandes und der neueren Organisation LandSchafftVerbindungen solidarisieren.
Das ist sehr einfach, sie haben eine einfache Forderung an uns als Konsument:innen: Wir sollen Scheiße im Trinkwasser bitte einfach akzeptieren und nicht meckern. Den Hintergrund des Streits bildet eine 30 Jahre alte Verordnung der EU gegen zu viel Nitrat im Wasser. Das Nitrat kommt aus Scheiße, es ist gut für Pflanzen und hilft ihnen beim Wachsen. Zu viel davon im Wasser ist aber schlecht für Menschen. Die Bäuer:innen kippen nach dem Prinzip "Viel hilft Viel" Scheiße auf die Felder. Wesentlich mehr als der Boden binden kann und die Pflanzen zum Wachsen verbrauchen. Die großen Mastbetriebe und kleineren Familienbetriebe sind dabei keinesfalls Gegner, wie es die Fachwerkhütte suggeriert. Die Scheiße aus den Großbetrieben wird von den kleineren gekauft und auf die Felder verteilt. https://www.wiwo.de/unternehmen/industrie/bauernproteste-und-guelle-streit-wohin-bloss-mit-all-dem-mist/28498712.html Daher ist es auch kein Wunder, dass das Netzwerk LandSchafftVerbindung, das von der Fachwerkhütte als Interessensvertretung kleiner "proletarischer" Familienbetriebe dargestellt wird, in Wirklichkeit von großen Agrarkapitalisten angeführt wird. https://taz.de/Initiative-Land-schafft-Verbindung/!5656430/
Was ist nun der Grund für die Proteste? Es geht um das Ende einiger Sonderprivilegien der Bäuer:innen. Wie wir gesehen haben, werden beim Mindestlohn oder beim Arbeitsschutz in der Landwirtschaft vom Staat beide Augen zugedrückt. Mit den Gülleverordnungen, die es eigentlich seit 30 Jahren gibt, war das lange Zeit genau so. Die Lebensmittel müssen billig bleiben, damit die Löhne insgesamt gedrückt werden können. Da ist ein bisschen Scheiße im Trinkwasser schon okay. Die Arbeit von Umwelt-NGOs und der Aufstieg der Grünen haben dafür gesorgt, dass das nicht mehr so ist. Sie üben über juristische Klagen und Politik Druck auf die Behörden aus, die Umweltgesetze tatsächlich anzuwenden. Hier kollidieren sie mit den Interessen der Bäuer:innen, die Lebensmittel eben nur dann billig produzieren können, wenn sie außerhalb des gesetzlichen Rahmens produzieren. Für kleinere Betriebe kann die Einhaltung der Umweltgesetze tatsächlich bedeuten, dass sie ihren Hof nicht mehr gewinnbringend betreiben können und sich einen anderen Job suchen müssen. Die Fachwerkhütte möchte, dass wir uns als Anarchist:innen dem Kampf um den Erhalt dieser Betriebe anschließen.
Aber sollten wir das tun? Um es mal auszusprechen: Ich WILL keine Scheiße in meinem Trinkwasser, und ich finde es RICHTIG, wenn Betriebe zugemacht werden, die Scheiße in mein Wasser kippen. Und wenn du deinen Hof nur halten kannst, wenn ich Scheiße im Wasser und rassistische Ausbeutung akzeptiere, dann spiele ich dir gerne ein Lied auf der kleinsten Violine der Welt.
Am Schluss ihres Textes entwirft die Fachwerkhütte ihre Utopie einer anarchistischen Gesellschaft. In dieser Gesellschaft könnten die Bäuer:innen ihre Unternehmen endlich so führen, wie sie wollen. Das, was sie da beschreiben, wäre wohl ein anarchokapitalistisches Horrorszenario. Denn das Privateigentum an Land und Betrieben soll wohl bestehen bleiben, sonst gäbe es ja keine "Familienunternehmen" mehr. Es sollen wohl einfach nur die Gesetze, die die zerstörerischsten Auswüchse des Kapitalismus einhegen, abgeschafft werden, während die Gesetze, die das Privateigentum schützen, bestehen bleiben. Unter solchen Bedingungen würden die europäischen Bäuer:innen wohl den offenen Sklavenhandel wieder einführen und alles in Scheiße ertränken. Aber wie könnte eine umweltfreundliche Regulation der Landwirtschaft in einer tatsächlich freien Gesellschaft aussehen? Der erste Schritt hin zu einer tatsächlich freien Gesellschaft wäre eine Revolution, in der das Privateigentum an Produktionsmitteln, Betrieben und Land abgeschafft wird. In Deutschland würde das wohl bedeuten, dass die "Familienunternehmer:innen" von den Höfen vertrieben werden und die Betriebe von den Landarbeiter:innen übernommen werden, die die Drecksarbeit machen. La tierra es de quien la trabaja (Das Land gehört dem, der es bearbeitet). Um zu verhindern, dass sich eine zentralistische Diktatur entwickelt wie in der Sowjetunion, müsste die Kontrolle über die Betriebe tatsächlich bei den Arbeiter:innen bleiben und nicht bei einer staatlichen Verwaltung. Die selbstverwalteten Betriebe müssten sich dann darüber einig werden, wie und was produziert wird, in einer dezentralen Planwirtschaft.
Das wäre natürlich keine perfekte Welt ohne Probleme, auch in einer solchen Gesellschaft könnten Betriebe auf eine Art und Weise wirtschaften, die das Gemeinwohl schädigt. Zum Beispiel, indem sie mehr Scheiße auf die Felder kippen, als der Boden aufnehmen kann, weil sie hoffen, dass die Pflanzen so schneller wachsen und sie sich dann Arbeit sparen. Wie würde eine tatsächlich freie Gesellschaft reagieren? Würde sie sagen: "Dann landet die Scheiße halt im Trinkwasser, was soll's, das ist eben freies Unternehmertum"? Ich glaube nicht.
Sie würde aber auch nicht durch zentralstaatliche Vorgaben reagieren, da die Betriebsorganisation zuerst Sache der Betriebe ist und wohl auch nicht durch Polizei und Gefängnis. Stattdessen würde die demokratische Planung solche Betriebe regulieren. Denn wenn bekannt wird, dass Betriebe die Allgemeinheit oder die Umwelt systematisch schädigen, könnten sie in der nächsten demokratischen Planungsrunde aus der Wirtschaft ausgeschlossen werden. Die anderen Arbeiter:innen, die keine Scheiße im Wasser wollen, könnten einfach beschließen, den gemeingefährlichen Betrieb nicht mehr zu beliefern.
Am Beispiel der heutigen Güllekämpfe lässt sich also zeigen, dass auch eine tatsächlich freie Gesellschaft in der Lage wäre, mit den Widersprüchen von Wirtschaft und Umwelt umzugehen. Nicht wie jetzt mit Gesetzen, die umweltschädliches oder gemeinschaftsschädliches Verhalten nachdem es passiert ist, bestrafen sollen. (Zumal deren tatsächliche Durchsetzung, wie die Landwirtschaft deutlich zeigt, von der politischen Großwetterlage abhängt.) Sondern vorher, in der demokratischen Planung des Wirtschaftslebens selbst. Die Betriebe müssten in der gemeinsamen Planung öffentlich machen, was sie vorhaben, und wenn das umwelt- oder gemeinschaftsschädlich ist, würden sie von den anderen Arbeiterkooperativen nicht mehr beliefert.
(Das Wort Bäuer:in wurde in diesem Text absichtlich gegendert, um Menschen zu ärgern, die sich von reaktionärem Kulturkampfgefasel den Blick auf die materielle Situation der arbeitenden Klasse vernebeln lassen.)