Was tun mit christlichem Anarchismus?


Fachwerkhuette
Debattenbeitrag christlicher Anarchismus

Der christliche Anarchismus ist nur eine von vielen kleinen anarchistischen Strömungen, und wird meist skeptisch betrachtet. Denn das Christentum wird oft als hierarchisch, reaktionär und nicht mit dem Anarchismus vereinbar eingeschätzt. Trotzdem gibt es die Strömung ja. Deshalb möchten wir nun, wo das Christentum mit dem anstehenden Weihnachtsfest wieder vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit rückt, in diesem Artikel mit einigem Halbwissen aufräumen und die Grundlagen dieser Strömung erklären. Danach werden wir darauf hinweisen, welche Fragen dennoch bleiben und ein Fazit dazu ziehen, wie wir als Anarchist:innen unserer Meinung nach mit dem Christentum und dem christlichen Anarchismus umgehen sollten.

Teil 1: Historische Grundlage

Der christliche Anarchismus ist eine heute nicht besonders präsente, aber doch ausführlich schriftlich begründete Position. Die Grundidee ist simpel: Wenn Jesus sagt, dass alle Menschen gleich sein sollten, sind weltliche Hierarchien nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar. Die wahre Theokratie wäre demnach - der Anarchismus.

Auf die genauen Bibelstellen und Verweise darauf gehen wir im zweiten Teil genauer ein. Zunächst aber der Hinweis, dass Christentum und Sozialismus hier gar nicht ‚künstlich‘ zusammengebracht werden. Viel eher entwickelte sich der Sozialismus – mehr oder weniger - aus dem Christentum heraus!

Wir wissen, es ist eine steile These, aber lasst uns erklären. Verzichten wir dafür auf eine vollständige Geschichte der europäischen Werteordnungen und Machtverhältnisse und nehmen nur ein paar bekannte Personen als Beispiel. Martin Luther, dessen spätere Werke bekanntermaßen eigene Problematiken aufweisen, war trotzdem wohl einer der wichtigsten Anti-Autoritären seiner Zeit. Er kritisierte die Kirche, die Unterdrückung und alle weltlichen Hierarchien, und begründete all das mit - der Bibel. Und er war so erfolgreich wie kein Europäer zuvor darin, alle Machtstrukturen seiner Zeit grundlegend in Frage zu stellen und zu verändern, und das vor allem durch die Unterstützung des Volkes statt bestimmter Großmächte. Er und andere große Reformatoren waren es dann auch, die die Bibel egalitär motiviert allen verfügbar machten und mit ihrem großen Einsatz für die Bildung die Aufklärung in Gang setzten, welche wiederum für die Französische Revolution und ihre Frühsozialist:innen verantwortlich war.

In dieser Revolution wurde die christliche Religion zwischenzeitlich allerdings komplett abgeschafft, weil sich die Macht der Kirche nicht mit dem Ideal der Gleichheit vereinbaren lies. Heutige christliche Anarchist:innen widersprechen hier und meinen, dass es ‚rechten Glauben‘ auch ohne Kirche, und Kirche ohne ‚rechten Glauben‘ geben kann.

Denn das wohl wichtigste zur Verständnis des christlichen Anarchismus ist es, Glauben und Kirche getrennt voneinander zu betrachten und zu bewerten. Die heutigen Kirchen sind tatsächlich inkompatibel mit dem Anarchismus, nicht aber der christliche Glaube als solcher.

Trotz allem waren fast alle wichtigen französischen Frühsozialist:innen christlich motiviert, und das selbe gilt für die deutschen. In Georg Büchners „Hessischem Landboten“, dem ersten revolutionären Manifest auf deutsch überhaupt, wird neben den hohen Geldausgaben des Herzogtums ausschließlich die Schöpfungsgeschichte der Bibel als Argument für die Notwendigkeit einer sozialen Revolution angeführt.

Auch Proudhon, der Urvater des Anarchismus, war gegen die Kirche, nicht aber gegen das Christentum, und hatte sich sehr viel mit Theologie auseinander gesetzt. Der Atheismus, der bis heute in vielen sozialistischen und anarchistischen Kreisen unangefochten ist, kommt erst von der Generation Marx/Bakunin/Stirner, welche versuchten, bisherige Ideen zu ihrem radikalsten Extrem zu bringen. Dabei fällt die Differenzierung zwischen der weltlichen Kirche mit all ihren Problemen, und dem christlichen Glauben, dessen Kern die Nächstenliebe ist, auch einfach mal unter den Tisch. Erst spätere Generationen von anarchistischen Philosoph:innen wie Lew Tolstoi, Jacques Ellul und Dorothy Day wurden hier wieder genauer und entwickelten das Konzept des christlichen Anarchismus.

Besonders ikonisch ist bei all dem Marx‘ Metapher des „Opium des Volkes“ - welche aber bereits 50 Jahre zuvor von Novalis, dem Urvater der romantischen Epoche, in dessen Blüthenstaub- Fragment Nummer 77 verwendet wurde. Über die „Philister“, also die Spießbürger, schreibt er hier:

„Ihre sogenannte Religion wirkt blos, wie ein Opiat: reizend, betäubend, Schmerzen aus Schwäche stillend. Ihre Früh- und Abendgebete sind ihnen, wie Frühstück und Abendbrot, nothwendig.“

Schon Novalis schaute sich die Dinge aber differenzierter als Marx an, und verurteilte die damalige, bis heute bestehende Glaubensauslebung und Kultur vieler deutscher Christen, nicht aber das Christentum als solches. Wie Luther vor ihm und die anarchistischen Christ:innen nach ihm lehnte auch er die Kirche ab, ohne sich vom Christentum zu trennen.

Für heute haben wir euch trotzdem genug mit Geschichte gelangweilt. Bevor wir uns aber die theologische Grundlage des christlichen Anarchismus anschauen, möchten wir auch aus eigener Erfahrung berichten, dass das Christentum bis heute zum Sozialismus führen kann. Denn wie bei allen Fragen kommt man, wenn man immer weiter nach dem „Warum“ fragt, irgendwann an einen Punkt, an dem nur noch Religion die Antwort sein kann. Was antwortet man beispielsweise auf die Frage: „Warum sollten alle Menschen gleich behandelt werden“? Eine Antwort wäre: „Weil es in der Summe das beste für alle wäre“. Fragen wir weiter: „Warum sollten wir für alle das beste wollen?“. Die Antwort: „Weil es auch für mich am besten wäre“, gilt nicht, denn am besten für einen selbst wäre es natürlich, besser als die anderen behandelt zu werden. Für die meisten Menschen gibt es auf solche Fragen also irgendwann keine Antwort mehr. Nicht aber für Christ:innen und viele andere Gläubige. Sie können sagen: „Alle Menschen sollten gleich behandelt werden, weil wir gleichermaßen Ebenbilder Gottes sind und Seine Gnade uns allen gleichermaßen gilt. Wir wollen für alle das beste, weil Jesus und die Propheten uns die Nächstenliebe zeigten und damit beauftragten. Denken wir aber an das Individuum, so kann das beste für für es nur sein, dass die eigene Seele erlöst wird, welches wiederum die Nächstenliebe voraussetzt.“

Vielleicht klingt das jetzt erst mal ziemlich theoretisch, aber wir können euch versichern, dass bis heute viele Christ:innen durch den Glauben, vor allem aber ihre christliche Erziehung zum Sozialismus und Anarchismus finden. Es ist schade, dass viele von ihnen trotzdem keinen Anschluss an radikale sozialistische und anarchistische Umfelder finden.

Teil 2: Theologische Grundlage

Die Bibel als Quelle ist immer umstritten, in jedem Themenbereich. Denn in ihr stehen sehr viele verschiedene, teils widersprüchliche Aussagen, und sie wurde über viele Jahrhunderte hinweg von vielen dutzend verschiedenen Menschen aus verschiedensten Kulturen geschrieben, übersetzt und interpretiert. Wir sollten uns also zuerst überlegen, welche Bibelstellen wie viel Gewicht haben.

Nehmen wir als Beispiel eine homophobe Bibelstelle:

„Schläft ein Mann mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, sind beide des Todes schuldig. Sie haben eine abscheuliche Tat begangen. Wer ihr Blut vergießt, bleibt straffrei.“ 3. Mose 20, 20

Noch heute berufen sich einige wenige konservative Christen auf diese Bibelstelle. Wie gehen aber liberale und libertäre Christ:innen mit so klaren Worten um?

Wichtig ist hierbei die Position der Bibelstelle. Sie steht nämlich tief im Alten Testament, vorne in der Bibel. Diese Stellen, die besonders in den Büchern Moses auftreten und viele, viele Regeln auflisten, werden auch „das Gesetz“ genannt. Sich als Christ:in hierauf zu beziehen, ist allerdings theologisch unseriös, denn hier stehen beispielsweise auch die Essvorschriften und viele, viele andere Regeln, die Christ:innen alle nicht mehr einhalten. Warum? Weil Jesus kam und uns neue Regeln gegeben hat, die die alten ersetzt haben (den „neuen Bund geschlossen hat“). Wie sehen die aus? Dafür müssen wir raus aus dem Alten, und hinein ins Neue Testament, ins Evangelium, wo Jesu eigenes Wort steht.

Hier wird Jesus an einer Stelle sogar direkt gefragt, was die wichtigsten Regeln überhaupt sind. Keine komplexe Interpretation, kein Wühlen in uralten, ewig langen Gesetzbüchern notwendig. Er sagt:

„Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“ Markus 12, 25 ff

Neben diesen beiden Geboten führt er an anderen Stellen auch immer wieder die Zehn Gebote, oder verkürzte Varianten derer, an. Auch diese sprechen eher für als gegen einen christlichen Anarchismus. Das Gebot: „Du sollst niemanden um das bringen, was ihm zusteht!“, lässt sich auch als Appell an die Arbeitgeber:innen und Unternehmer:innen verstehen, die ihre Arbeiter:innen ausbeuten und die Produktionsmittel für sich behalten. Das Gebot: „Du sollst nicht stehlen!“ macht manche libertäre Ladendieb:innen vielleicht stutzig, doch es lässt sich auch unter Proudhons These: „Eigentum ist Diebstahl“ interpretieren. Denn was ist überhaupt rechtmäßiges Eigentum?

An einer Stelle im neuen Testament, die in gleich drei von vier Evangelien, dem Herzstück des christlichen Glaubens, vorkommt und deshalb theologisch unangefochten ist, behauptet ein Mann aber, sich bereits an all diese Gebote zu halten. Jesus antwortet ihm so:

„Eins fehlt dir noch: Geh los, verkaufe alles, was du hast, und gib das Geld den Armen. [...] [Denn l]eichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineinkommt.“ Markus 10, 21&25

Diese Bibelstelle klassenkämpferisch-anarchistisch zu interpretieren, ist auch mit dem Zusatz „Für Menschen ist es unmöglich, aber nicht für Gott. Denn für Gott ist alles möglich“, der zwei Verse später folgt, wohl nicht besonders schwierig. Dazu kommen einige andere Bibelstellen, beispielsweise in der Bergpredigt, mit denen wir euch jetzt aber nicht langweilen wollen.

Das Thema, über das Jesus am meisten predigte, war übrigens das Geld, und falls das noch nicht klar sein sollte, war er kein Fan von denen, die viel davon hatten, und gab sich besonders viel mit den Ärmsten der Armen in der Gesellschaft ab. Zusätzlich gibt es sogar basierte Interpretationen, die sagen, dass dem Teufel alle politische Macht auf Erden gehört und sie auszuüben heißt, den Teufel anzubeten. Das ist für diesen Artikel aber alles zu weitreichend und vielleicht auch zu weit aus dem Fenster gelehnt. Wir wollen ja nur sagen: es gibt deutlich mehr Bibelstellen, die sich anarchistisch interpretieren lassen, als wir in diesem Artikel zitieren.

Eine wichtige Bemerkung ist aber, dass Jesus in seiner damaligen Zeit natürlich auch nicht besonders bürgerlich war. Geboren in ärmlichen Verhältnissen, mutmaßlich als eheloses Kind. Er war nie verheiratet und verlangte von seinen Jüngern, ihre Familien zurück zu lassen. Er besaß kein Geld (es gibt Bibelstellen, die das sehr konkret belegen), und kein Haus, sondern zog umher. Als Jude war er im römisch besetzten Palästina Teil einer unterdrückte Minderheit und wurde von den Eliten („Schriftgelehrten“) seines eigenen Volkes als Unruhestifter zum Tode verurteilt, weil er diese offen kritisierte und sich nicht an ihre Regeln aus dem Alten Testament hielt. Er sprach sich sogar prinzipiell gegen Hierarchien aus:

„Ihr wisst: Die Herrscher der Völker unterdrücken die Menschen, über die sie herrschen. Und die Machthaber missbrauchen ihre Macht. Aber bei euch darf das nicht so sein: Sondern wer von euch groß sein will, soll den anderen dienen.“ Matthäus 20, 25-26

An einer anderen Stelle kritisiert er Hierarchien speziell in der Kirche:

„Aber ihr sollt euch nicht ‚Rabbi‘ [oder auch ‚Pastor‘] nennen lassen. Denn nur einer ist euer Lehrer, aber untereinander seid ihr alle Brüder und Schwestern. Ihr sollt auch keinen von euch hier auf der Erde ‚Vater‘ nennen. Denn nur einer ist euer Vater: der Vater im Himmel. Ihr sollt euch auch nicht ‚Lehrmeister‘ nennen lassen, denn nur einer ist euer Lehrmeister: Christus. Wer unter euch am größten ist, soll euer Diener sein. Wer sich selbst groß macht, wird von Gott niedrig und klein gemacht werden. Und wer sich selbst niedrig und klein macht, wird von Gott groß gemacht werden.“ Matthäus 23, 8-12

Genau so, wie Jesus in all diesen Bibelstellen predigt, haben ihn die ersten Christ:innen jedenfalls auch verstanden. Fast zweitausend Jahre vor autonomen Wohnprojekten heißt es über sie in dieser berühmten Bibelstelle:

„Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele. Keiner betrachtete etwas von seinem Besitz als sein persönliches Eigentum. [...] Keiner von ihnen musste Not leiden. Wer Grundstücke oder Häuser besaß, verkaufte diese und stellte den Erlös zur Verfügung. Er legte das Geld den Aposteln zu Füßen. Davon erhielt jeder Bedürftige so viel, wie er brauchte.“ Apostelgeschichte 4, 32 und 34-35

Dazu waren sie natürlich eine verfolgte Gruppe, die im Untergrund agierte und immer wieder staatlicher Schikane, Verfolgung und sogar Folter ausgesetzt war. Auch fielen sie dadurch auf, dass die Frauen bei ihnen für damalige Verhältnisse besonders viel zu sagen hatten. Und auch wenn dieMönche und Nonnen sich an ihrem Lebensstil bis heute orientieren, ist von all dem bei den meisten selbstbezeichneten Christ:innen nicht viel davon geblieben.

Warum? Weil sich die Kirche mit ihrem Wachstum irgendwann von ihrer ursprünglichen Rolle als egalitäre, unterdrückte Gruppierung hin zur politischen Macht entwickelt hat. Es bildeten sich weltliche, hierarchische Strukturen, während Arrangements mit etablierten, staatlichen Strukturen getroffen wurden. Diese werden oft mit der folgenden, nicht von Jesus selbst stammenden, aber trotzdem im Neuen Testament platzierten Bibelstelle gerechtfertigt:

„Jeder Mensch soll sich den staatlichen Behörden unterordnen. Denn es gibt keine staatliche Behörde, die nicht von Gott gegeben ist. Auch die jetzt bestehenden sind von Gott eingesetzt. Das heißt: Wer sich gegen die staatliche Ordnung auflehnt, lehnt sich damit gegen die Anordnung Gottes auf. Und wer das tut, wird zu Recht bestraft werden.“ Römer 13, 1-2

Gefolgt wird diese Stelle von der offensichtlich falschen Behauptung, wer Gutes tut, hätte nichts zu fürchten, sondern nur die, die Böses tun. Deshalb gibt es Theorien, dass diese Bibelstelle von Paulus, der zwar von Gott auserwählt, aber weder Sein Sohn noch Prophet war, eher politisch als theologisch gemeint war. Die Jüd:innen wurden nämlich nicht lange vor dem Verfassen dieses Briefes aus Rom vertrieben, sodass sich die Christ:innen hier keine Konflikte mit den Machthabern leisten konnten. Die alleinige Existenz dieser Bibelstelle, sowie die Position im Römerbrief impliziert außerdem, dass es eben überhaupt nicht selbstverständlich und nicht immer leicht ist, sich staatlichen Behörden unterzuordnen. Und trotz allem wurde diese Bibelstelle besonders im frühen Mittelalter sehr hoch gehalten und als generell geltend, statt ausschließlich an die damaligen römischen Christ:innen adressiert, interpretiert.

Teil 3: Berechtigte Kritik

Der christliche Anarchismus ist also historisch gesehen logisch und er lässt sich auch theologisch rechtfertigen. Wer bereits Christ:in ist, darf also getrost gleichzeitig Anarchist:in sein! Wer aber ohnehin nicht gläubig ist, wird trotzdem noch Dinge finden, die Fragen aufwerfen. Wir haben einige zusammen gesucht:

Vor allem beim Thema Geschlecht und Sexualität gibt es noch viele Problematiken. So sind in der Bibel oft feste Geschlechterrollen vergeben, Frauen unterrepräsentiert und strenge Regeln für das Sexualleben und Verbote von Homosexualität enthalten. Dass das „Gesetz“ seit Jesus nicht mehr gilt und die Bibel nicht von Gott, sondern von Menschen vor tausenden Jahren, die eben in diesen Geschlechterrollen dachten, geschrieben ist, kann das alles relativieren und abschwächen, aber nicht komplett wegwischen. Dass es eine ganze Menge Frauen in der Bibel gibt, extrem viel mehr als in allen anderen Werken zu dieser Zeit, wird oft positiv angeführt, aber proportional zu ihrem Anteil in der Bevölkerung, also etwa fifty-fifty, ist diese Menge immer noch nicht. Und ein weiteres Fallbeispiel: In der Schöpfungsgeschichte heißt es, dass der Mensch „als Mann und als Frau“ geschaffen wurde. Nun lässt sich argumentieren, dass dort ja nicht steht, er wäre ausschließlich als Mann und Frau geschaffen, wie es in der Deutschen Übersetzung impliziert wird (und ja, dieses Argument wird tatsächlich von Christ:innen, die sich für Non-binäre einsetzen, verwendet), aber trotzdem ist nur von Mann und Frau die Rede.

(In der selben Schöpfungsgeschichte heißt es außerdem, dass der Mann vor der Frau geschaffen wurde. Das ist aber wohl eine Fehlübersetzung und -interpretation. Denn die beiden Figuren sindrein symbolisch, und Adam war in der ursprünglichen Version kein männlicher Vorname, sondern einfach das Wort für „Mensch“ - so sagt zumindest eine sehr populäre, mit dem christlichen Anarchismus kompatible Auslegung. Natürlich gibt es aber auch andere Interpretationen der Schöpfungsgeschichte. Die Namensbedeutung von Eva ist dabei sogar noch umstrittener, womöglich handelt es sich aber um ein Wortspiel)

Dazu kommt, dass es im Sozialismus ja nicht nur darum geht, dass man sich eine egalitäre Welt wünscht, in der alle nett zueinander sind. In der klassischen Sozialismustheorie gehört es nämlich immer auch dazu, auch für diese Welt zu kämpfen, anstatt sich nur in einer fernen Hoffnung zu wiegen – auch wenn man dazu alles andere als nett zu denen sein muss, die dieser Welt im Weg stehen. Zwangsenteignung und Inhaftierung der Bourgeoise sind da ein wichtiger Aspekt, der mit der christlichen Feindesliebe und dem Pazifismus nicht vereinbar ist. Auch wenn es inzwischen viele weitere Revolutionstheorien wie z.B. den Anarcho-Syndikalismus gibt, bei denen Gewalt gegen Menschen nicht unbedingt Teil des Grundkonzeptes sein muss, ist sehr umstritten, ob eine Revolution überhaupt komplett ohne Gewalt durchsetzbar ist. Denn obwohl sie hier, anders als beispielsweise im Insurrektionalismus oder der Propaganda der Tat theoretisch nicht essenziell ist, kann sie in bestimmten Situationen ein wertvolles Werkzeug sein, von dem man sich nicht unbedingt prinzipiell lossagen will - auch wenn es für den Anarcho-Pazifismus ebenfalls ausgeklügelte Konzepte gäbe.

Ein großer Gegensatz zwischen Anarchismus und Christentum ist außerdem das Menschenbild. So gehen einige anarchistische Strömungen davon aus, dass der Mensch von Natur aus gut ist: er tut in der Regel instinktiv das Richtige und behandelt andere Menschen gut, auch ohne dazu von Autoritäten gezwungen zu werden. Andere Strömungen sehen den Menschen als Produkt seiner Umgebung, von Natur aus weder gut noch schlecht und zu beidem fähig, ähnlichem dem Marxismus, der einen besseren, „neuen Menschen“ hervorbringen will. Das Christentum hingegen hat ein sehr negatives Menschenbild: der Mensch kann das Gute vom Schlechten unterscheiden, könnte also ausschließlich Gutes tun – entscheidet sich aber stündlich bewusst dagegen und sündigt immer wieder. „Niemand ist gut außer dem Einen: Gott“ (Markus 10, 18). Viele Christ:innen sagen deshalb: der Mensch ist schlecht und das Paradies kann es nicht auf Erden geben. Dennoch ruft Jesus uns auf, es zu versuchen, uns für eine bessere Gesellschaft einzustehen, und während einige meinen, Gottes Gnade ist, dass er uns nach unserem Leben erlöst, sagen andere, dass Gottes Gnade uns auch auf Erden schon dabei helfen kann. Ob Gott uns auch dabei helfen würde, eine anarchistische Gesellschaft zu etablieren? Man müsste es wohl ausprobieren.

Doch man kann noch viel grundsätzlicher Kritik am Christentum üben, und auch Bakunin hat es auf diese Weise getan. Denn Gott steht über den Menschen. Auch im Himmel und unter den Propheten soll es, so deuten es einige Bibelstellen an, Hierarchien geben, aber selbst wenn man diese beiseite lässt, ist im Christentum Herrschaft doch ein grundlegender Bestandteil. Denn wenn nun Gott über die Welt herrscht, lässt sich nicht mehr prinzipiell sagen, dass Hierarchien etwas unnatürliches, schlechtes, überwindbares und rein menschengemachtes sind. Dass Gott uns auf Erden absolute Freiheit gab und für die Gleichheit der Menschen untereinander ist, wirkt nun paradox. Kurz gefasst: Wenn Anarchist:innen sagen, dass Hierarchien prinzipiell schlecht sind, greifen sie damit auch die Position Gottes an.

Selbst wenn man ausdifferenziert, dass Gott, obwohl Er auch hier Allmacht hat, eben nicht über die Erde herrscht, sondern über den Himmel, und es den Menschen komplett frei stellt, ob sie sich ihm unterwerfen oder nicht, entstehen Komplikationen: Ist Allmacht nicht auch problematisch, wenn sienicht (aus)genutzt wird? Ist Herrschaft über eine andere Welt (den Himmel) nicht ebenso problematisch wie die über die unsere? Und ist der Mensch wirklich komplett frei, Gott nachzufolgen oder nicht, wenn ihm Fegefeuer und Hölle droht? Erneut gilt: Wer bereits Christ:in ist, wird sich durch solche Gedanken nicht beirren lassen, aber wer als nicht-christliche:r Anarchist:in auf das Christentum schaut, wird wohl zurecht skeptisch sein und den christlichen Anarchismus ablehnen.

Teil 4: Fazit

Ist nun also der Anarchismus mit dem Christentum, nicht aber das Christentum mit dem Anarchismus vereinbar?

Es scheint so. Doch vielleicht geht diese Gegenüberstellung etwas an der Realität vorbei.

Denn es geht ja niemandem darum, Christentum und Anarchismus vollständig zu vereinen. Den christlichen Anarchist:innen geht es weniger darum, alle anderen Anarchist:innen zum Christentum zu konvertieren, als darum, dass die eigene Weltanschauung von ihnen einfach akzeptiert wird. Sie muss ja nicht geteilt werden, aber die Wahrnehmung, dass christlicher Anarchismus überhaupt existiert, und noch dazu auf einer breiten Grundlage steht, fehlt an viel zu vielen Stellen. Denn prinzipieller Antitheismus, der fast immer auf Fehlinformationen, Missverständnissen oder fundamentalistischen Bibelauslegungen fußt, ist in anarchistischen Kreisen bis heute extrem weit verbreitet und an vielen Stellen unangefochtener Konsens - oft vor allem wegen persönlichen negativen Erfahrungen mit der Kirche als Institution oder einzelnen christlichen Personen, besonders in der eigenen Familie.

Das wird zum Problem, wenn Menschen ohne dieses negative Bild vom Christentum (wozu neben sämtlichen Christ:innen vor allem auch viele Anhänger:innen anderer Religionen, Agnostiker:innen, Sympathisant:innen, Atheist:innen mit gläubigen Freund:innen, sowie Befürworter:innen der Glaubensfreiheit gehören) davon abgeschreckt werden. Sie fühlen sich nicht willkommen oder können den propagierten oberflächlichen Antitheismus nicht mit ihrem eigenen Wertekompass oder sozialem Umfeld vereinbaren. Vielleicht fällt ihnen auch auf, dass hier von anarchistischer Seite über Themen geurteilt wird, mit denen sich die Leute selbst gar nicht auskennen, und die sie extrem einseitig, oberflächlich oder schlichtweg falsch darstellen, sodass sie den betroffenen Anarchist:innen von Anfang an misstrauisch gegenüber stehen oder deren Gedankengut prinzipiell ablehnen. Vor allem bei uns im ländlichen Raum, wo noch fast alle entweder christlich sind, gute Erinnerungen an eine christliche Kindheit haben, von christlicher Diakonie profitieren oder extrem viel mit Leuten aus diesen Gruppen zu tun haben, macht man sich bei anarchistischem Aktivismus mit antitheistischen Thesen nur unnötig das Leben schwer und lässt die eigene Denkrichtung intoleranter und unflexibler dastehen, als sie eigentlich sein sollte.

Unser rein persönlicher Appell lautet daher, sich mit christlichem Anarchismus auseinanderzusetzen, ihn zu akzeptieren, Christ:innen nicht prinzipiell kritischer als anderen gegenüber zu stehen und vorsichtig zu sein, wenn man berechtigte Kritik an der Kirche als Institution äußert. Ganz im Gegenteil lassen sich Christ:innen sogar als Zielgruppe entdecken, denn wer wirklich an absolute Nächstenliebe glaubt, ist vom Anarchismus nicht mehr weit entfernt. Dazu gibt es gerade heute extrem viele Christ:innen, die Distanz zur Kirche und ihren Skandalen suchen, und sich nicht ganz sicher sind, wie und ob sie das machen können. Es wird Zeit, ihnen eine Perspektive zu geben, und sie in unsere Kämpfe zu integrieren. Mit diesen Worten:

Gegen primitiven Antitheismus!
Für die freie Glaubensausübung!
Für den Anarchismus!

Fachwerkhütte

Alle nachhaltigen Revolutionen wurden von den ländlichen Regionen getragen. Gerade anarchistische Revolutionen wie die in der Ukraine oder Chiapas sind hierfür ein ausgezeichnetes Beispiel. Wie kommt es also, dass der heutige Aktivismus im deutschsprachigen Raum sich so wenig um alles außerhalb der Großstädte kümmert?

Fachwerkhütte ist ein kleines Textprojekt mehrerer Anarchist:innen aus dem ländlichen Nordhessen, das sich darauf spezialisiert hat, an dieser momentan noch schwierigen Beziehung vom Anarchismus zum Land zu arbeiten. Wir möchten ländliche Themen und Perspektiven vermitteln und dabei auch keine Gelegenheit auslassen, (konstruktive) Kritik an allen unseren Verbündeten im Kampf gegen die Unterdrückung zu üben.

Es lebe der Anarchismus!

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