Anarchistische Chöre


Aaron
Musik Kultur

Das gute Leben - hier und jetzt

Wir haben viel zu tun. Die Welt brennt und die herrschende Klasse gießt weiter Öl ins Feuer. Ich kann alle verstehen, die sagen: "Jetzt ist nicht die Zeit für Tanz und Gesang". Aber ich kann nicht ohne - ich kann nicht für eine Idee, eine Theorie, oder, und das klingt jetzt hart, aus purem Altruismus politisch aktiv sein. Ich muss das gute Leben vor mir sehen, ich muss sehen, spüren, hören wofür ich kämpfe. Ich muss erleben, dass da etwas freieres, lebendigeres ist als der ewige Teufelskreis aus Lohnarbeit und oberflächlichem Konsum um mich auf den nächsten Scheißtag vorzubereiten. Ich bin oft verleitet, mich genau dem hinzugeben. Es passiert oft genug, vermutlich ist es dir, liebe Leserin, auch schon oft passiert. Völlig nachvollziehbar. Ich möchte nicht dafür argumentieren, daran sehr viel zu ändern, das wäre zu viel verlangt. Wir haben nur dieses eine Leben und ich habe selbst viel davon für Ideen geopfert, die ich heute ablehne. Ich wünsche mir manchmal sehnlichst, ich hätte stattdessen noch mehr gelebt. Aber der Hunger auf Leben, auf Liebe und auf Verbundenheit muss uns nicht nur zu Restaurants, Bars, Raves oder All-Inclusive-Urlauben treiben. Ein gutes Leben muss nicht Konsum um des Konsums Willen bedeuten.  Sich das gute Leben vorzustellen und es einfach umzusetzen, das ist die Definition von Direkter Aktion.  Und es wäre zu kurz gegriffen, dabei nur an das Brot (als Metapher für die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Essen, Unterkunft, Gesundheit, ...) zu denken. Die Rosen gehören auch dazu. Nicht nur als Ausblick auf das schöne Zusammenleben, wenn das Brot für alle da ist. Sondern auch um in Zeiten der Verzweiflung, in Zeiten des Hungers, zusammenzustehen.  Zusammenzustehen und sich nicht vom Versprechen auf ein paar Krümel spalten zu lassen, weiterzukämpfen bis das Brot wieder erobert ist. Mit Rosen meine ich "Kultur". Und in diesem Fall meine ich damit Musik.

Um es auf den Punkt zu bringen: Ich möchte euch einladen, zusammen zu singen. In Frankreich sind politische Chöre recht üblich, im deutschsprachigen Raum aktuell nicht so sehr. Das ist schade, denn ein Chor ist nicht nur eine schöne Freizeitbeschäftigung, die Menschen zusammenbringt. Ein Chor kann auch eine politische Aktionsgruppe sein. Und ich meine, eine hervorragende solche. Nun also zu den "sachlichen" Argumenten:
Singen als Aktionsform ist anschlussfähig: Schöne Musik wirkt zugänglich,  kann Gefühle bei anderen Menschen auslösen. Einem Chor hören die Menschen lieber zu als einem schwarzen Block. Und die Erfahrung zeigt auch, dass Menschen gerne bei einem selbstverwalteten Chor mitmachen, ohne sich zunächst mal sehr viele Gedanken um Politik zu machen. Das neugierige Lauschen auf dem Heimweg von der Lohnarbeit hat ein enormes Mobilisierungspotenzial.
Singen ist niedrigschwellig: Im Allgemeinen lassen sich Gesangs-Aktionen in Deutschland ohne große Repressionsgefahr durchführen. Das erlaubt auch unerfahrenen oder ängstlichen Menschen (oder vorbestraften, oder abschiebungsgefährdeten Menschen, etc.) die Teilnahme.
Lieder bilden: Zum gemeinsamen Erarbeiten eines Liedes gehört auch, sich mit der Geschichte des Liedes befassen. Dadurch lernt man ganz nebenbei Bewegungsgeschichte, was sonst vielleicht gar nicht passieren würde. Als ein Medium, wie ein Roman, kann ein Verantwortungsgefühl für uns und die Kämpfe darüber hinaus entstehen. Wir wollen Solidarität schaffen.
Chöre erzeugen Selbstwirksamkeit: Als revolutionäre Chöre (was auch immer das heißen mag) wollen wir auch uns selbst revoluzzen, d. h., dass wir in unseren Strukturen zwangvolle Autoritäten abschaffen wollen. Egal, ob Chöre sich freiwillig einer Chorleitung oder Gruppen von mehreren Personen unterordnen, diese basieren auf Konsens und beschreiben freiwillige Autoritäten. Wenn wir gesellschaftliche starre Machtbeziehungen und kapitalistische Organisiertheit ablehnen, dann beginnen wir bei uns. Und Selbstwirksamkeit erzeugen wir durch die Selbstorganisation der Proberäume, Demos, Events, Proben etc.
Lieder machen Forderungen lebendig: Viele politische Lieder lassen sich inhaltlich auf wenige Punkte reduzieren. Aber gerade die Verwendung vieler Bilder, die Ausschmückungen, die Reime, erlauben ein Verständnis von Forderungen auf einer emotionalen Ebene.
Ein Beispiel ist das 2015 geschriebene Lied "La rue des lilas": Im Kern richtet sich das Lied gegen Krieg (damals konkret gegen den Syrienkrieg). Aber zu sagen "Wir sind gegen Krieg" ist etwas anderes als zu sagen "Niemand von uns ist sicher, der Krieg kann jederzeit auch hierher kommen. Dann werden wir nie wieder die Schönheit unserer Welt bewundern dürfen. Nie wieder Täler, Gipfel, den Eisvogel der in tausend Blitzen strahlt, den Mond, diesen blauen See am Rand des Waldes. Wie gerne würde ich meine Brüder, meine Eltern, meine Kinder, meine Freunde wiedersehen, noch einmal tanzen, singen, trinken, bis das Leben endet. Ich sage euch:
Verflucht sei der Krieg, mit seinen Panzern, seinen Gewehren, seinen Massakern."

Singen gibt Selbstvertrauen: Eine Bewegung braucht Menschen mit Mut. Singen kann ermächtigen, kann ein starkes Gefühl von Selbstwirksamkeit vermitteln. Wer heute vor einer Menschenmenge singen kann, traut sich vielleicht auch morgen eine Diskussion zu moderieren und wird seine/ihre Stimme vielleicht irgendwann als Abgeordnete/r eines Rates einsetzen.
Es braucht mehr Angebote von links: Niedrigschwellige Chöre sind in Deutschland bisher bestenfalls belanglos, im schlimmeren Falle von Reaktionären (Kirchen, Rechte) inhaltlich besetzt. 

Aber es gibt Hoffnung und vor allem Menschen, an die ihr euch wenden könnt, wenn ihr Hilfe braucht, selbst ein solches Projekt zu starten!

Hier findet ihr Chöre:

Aaron

Aaron ist seit ca. fünf Jahren im Rhein-Main-Gebiet in solidarökonomischen Projekten aktiv und organisiert seit drei Jahren den Chor fürs gute Leben in Mainz mit.

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