Anarchist:innen sind keine Antiautoritären


Mo
Anarchismus Theorie Autorität

1 Warum dieser Text?

Im September wurde auf anarchismus.de bereits ein Text von mir veröffentlicht. In 'Von Anarchie und Autorität' kritisiere ich den Autoritätsbegriff von Friedrich Engels und reiße eine anarchistische Alternative an. Der Text ist absichtlich kurz gehalten: einerseits um zugänglich und klar zu sein, andererseits, weil man hier nicht besonders viel Platz für eine vernünftige Kritik braucht. Dadurch bleibt allerdings einiges offen, auch zentrale Fragen anarchistischer Analyse und Strategie. So steht dort beispielsweise: "ob man die Sklavin, die ihren Herren niederschlägt, ob man Befreiung und Selbstverteidigung autoritär nennen will, kann man diskutieren. Jedenfalls erkennt jede:r vernünftige Anarchist:in, dass Fesseln, die sich nicht lösen lassen, gesprengt werden müssen."

In diesem Artikel will ich genau das diskutieren und nicht bei einem unerklärten, normativen Appell zur Vernunft bleiben. Das zentrale Argument lautet:

Prämisse 1: Autorität ist ein notwendiges Übel der Revolution.
Prämisse 2: Herrschaft ist eine Gefahr für die Revolution.
-> Schluss: Anarchist:innen sind gegen Herrschaft, aber keine Antiautoritären.

Dieses Argument wird im Folgenden ausgeführt, doch zuvor zwei kurze Anmerkungen.

  • Erstens: in diesem Artikel argumentiere ich aus anarcha-kommunistischer Perspektive. Ich würde behaupten, damit relativ deckungsgleich mit den 'klassischen' und verbreitetsten anarchistischen Standpunkten zu sein. Trotzdem wird hier nicht beansprucht, für alle anarchistischen Strömungen zu sprechen. Einige von diesen sind durchaus antiautoritär (zB. Anarcho-Pazifismus), mein Argument soll aber sein, dass das ein Zusatz und keine grundsätzliche Eigenschaft im Anarchismus ist und war.

  • Zweitens: Hier wird um Begriffe gestritten. Begriffe sind mit Inhalt aufgeladene Wörter. Das Wort "Baum" bekommt seine begriffliche Bedeutung, wenn es als ein Verweis auf das Ding Baum verstanden wird. Das ist aber nicht immer so einfach: Viele Wörter haben je nach Kontext andere Inhalte. Was hier etwa als "Herrschaft" bezeichnet wird, nennen andere vielleicht "Macht" oder "Autorität". Wichtig ist letztendlich nicht das Wort, sondern sein Inhalt. Ich glaube, dass die anarchistische Analyse gerade an der unklaren Verwendung ihrer zentralen Begriffe krankt. Oft wird das Gleiche gesagt, aber Unterschiedliches gemeint. Dieser Text soll ein Anstoß sein, begriffliche Schärfe in unsere Debatten zu bringen, auf dass wir über das gleiche reden und streiten können.#

2 Autoritätsbegriffe

2.1 Autorität als einfache Willenshierarchie

Autorität ist die "Überordnung eines fremden Willens über den unseren" schreibt Engels in 'Von der Autorität'. Davon ausgehend nennt er unzählige Beispiele, die auf diese Definition zutreffen sollen: Das gemeinsame Arbeiten in einer Fabrik (hier muss man sich dem gemeinsamen Produktionsziel unterwerfen), das Arbeiten mit Dampf (hier ist man dessen physikalischen Gesetzen unterworfen) oder das Erkämpfen einer Revolution (hier unterwirft man gewaltsam die Verteidiger der herrschenden Ordnung). Für Engels ist Autorität somit praktisch gleichbedeutend mit Gesellschaft, eine antiautoritäre Revolution kann es für ihn sowieso nicht geben. Diesem Verständnis kann man zwei Dinge vorwerfen: Einerseits ist der Begriff sehr breit (praktisch jede Situation ist autoritär) und damit sehr unscharf. Für ihn sind zB. gemeinschaftliches Arbeiten und Sklaverei unterschiedslos autoritär. Andererseits passen Engels Beispiele fast alle nicht zu seiner eigenen Definition! Wenn eine Gruppe gemeinsam produzieren will, so ist diese Arbeit nicht Unterordnung sondern Ausdruck der einzelnen Willen. Und insofern Engels kein spiritueller Animist ist, sollte ihm eigentlich klar sein, dass Dampf weder Seele noch Willen hat, die Arbeit mit ihm also auch kein Willensverhältnis sein kann.

2.2 Natürliche und künstliche Autorität

Engels unbrauchbarer Autoritätsbegriff verwundert besonders, wenn klar wird, dass sein 'antiautoritärer' Erzfeind Michail Bakunin zwei Jahre zuvor bereits einen deutlich besseren Ansatz vorstellt. In 'Gott und der Staat' fasst er Autorität als etwas, dem man seinen Willen unterordnen muss. Er unterschiedet zudem zwischen natürlicher Autorität (Naturgesetze) und künstlicher Autorität (soziale Regeln/Befehle). Erstere hält er für notwendig und auch Zweitere nicht für vollständig falsch:

"Folgt hieraus, daß ich jede Autorität verwerfe? Dieser Gedanke liegt mir fern. Wenn es sich um Stiefel handelt, wende ich mich an die Autorität des Schusters; handelt es sich um ein Haus, einen Kanal oder eine Eisenbahn, so befrage ich die Autorität des Architekten oder des Ingenieurs. […] Wenn ich mich vor der Autorität von Spezialisten beuge und bereit bin, ihren Angaben und selbst ihrer Leitung in gewissem Grade und, solange es mir notwendig erscheint, zu folgen, tue ich das, weil diese Autorität mir von niemand aufgezwungen ist, nicht von den Menschen und nicht von Gott."

Dieser Begriff erlaubt bereits eine deutlich genauere Analyse. Vor allem wird deutlich: Es war schon früh klar, dass sich Anarchist:innen nicht als strikt antiautoritär verstehen.

2.3 Autorität als Zwangsverhältnis

Im Moment befinden wir uns ja auf der Suche nach einem sinnvollen Autoritätsbegriff. Engels liefert einen sehr breiten Vorschlag, der differenzierte Analysen schwer macht. Bakunin teilt ein breites Verständnis von Autorität (hier: etwas, dem ich meinen Willen unterordne), teilt dieses aber in Unterkategorien (natürliche/künstliche Autorität) und Unter-Unterkategorien (zB. staatliche, religiöse, wissenschaftliche Autorität). Diese Zerstückelung der allgemeinen Kategorie erlaubt tatsächlich auch genauere Analysen. Ich will allerdings einen Autoritätsbegriff vorschlagen, den ich für noch schärfer und unkomplizierter halte:

Autorität ist Willenshierarchie durch Zwangsmittel

Gehen wir diese Definition Schritt für Schritt durch. "Willenshierarchie" bedeutet: Ein Willen setzt sich gegen einen anderen durch. "Zwangsmittel" meint zweierlei: 1. Aktive Irreführung (von einfacher Lüge bis zB. patriarchaler Ideologie), die mich am Entwickeln eines eigenen, rationalen Willens hindert; 2. Das Antun oder Androhen physischer Gewalt, die mich am Umsetzen dieses Willens hindert.

Einige Beispiele:

  • Natürliche/Dingliche Notwendigkeiten wie der Tag-Nacht-Wechsel sind nicht autoritär, weil es keine Willenshierarchie gibt.
  • Die Anweisungen einer Spezialistin sind nicht autoritär, wenn ich sie aus freien Stücken und mit vollem Verständnis befolge.
  • Die gesetzmäßigen Anweisungen eines Polizisten sind autoritär, weil sie staats-ideologisch legitimiert und gewaltsam durchsetzbar sind.
  • Die herrschenden Eigentumsverhältnisse sind autoritär, weil ich mich ihnen fügen muss oder aber die Wahl zwischen Verzicht und illegaler Aneignung habe, also zwischen Verhungern und rechtlicher Verfolgung. Ebenso alle anderen gewaltsam und ideologisch stabilisierten Machtverhältnisse: Hetero-Patriarchat, Kolonialismus, Nationalstaat, Ableismus und so weiter.

Warum dieser Begriff? Erstens glaube ich, dass er am besten das fasst, was man im Alltag als autoritär bezeichnet: Selbst die radikalsten Antiautoritären (pubertierende Jugendliche) wenden sich tendenziell nicht gegen die Ratschläge von Menschen, die sie für klug halten und haben auch selten Streit mit der Schwerkraft. Viel eher rebellieren sie gegen ideologisch legitimierte Autoritäten (Eltern, Lehrkräfte, Cops,...) von deren Regeln sie sich eingeschränkt fühlen. Zweitens fokussiert der Begriff genau die Sache, um die es uns geht: eben nicht Naturphänomene, freie Kooperation oder natürliche Abhängigkeit. Schon Bakunin hat mit diesen kein Problem, und zwar eben genau dann, wenn sie nicht aufgezwungen sind. Der springende Punkt ist also auch bei ihm der Zwang. Und genau darum soll es im Weiteren gehen: soziale Situationen, in denen die Entwicklung oder Umsetzung meines Willens gezwungener Maßen verhindert wird.

3 Was ist Herrschaft?

Eine Gesellschaft organisiert die Macht (die Möglichkeit den eigenen Willen umzusetzen) ihrer Mitglieder. Das kann auf unterschiedliche Weise passieren, Herrschaft ist eine davon. Wieder mein Definitionsvorschlag: Herrschaft verwaltet die soziale Macht in zentralisierten Institutionen, die ihren Willen mit Ideologie bzw. Gewalt(androhung) gegen ihre Herrschaftssubjekte durchsetzen. Herrschaft ist verallgemeinerte Autorität.

Erstmal: Was soll 'verallgemeinerte Autorität' sein?

Autorität fasse ich oben als Willenshierarchie durch Zwangsmittel. Ein autoritäres Verhältnis ist also etwas ziemlich Konkretes: Ein bestimmter Wille muss sich einem anderen bestimmten Willen gezwungener Maßen (von religiöser Moral, über das Drohen mit der Polizei, bis zum direkten Übergriff) unterordnen. Verallgemeinert ist Autorität dann, wenn nicht nur ein Mensch einen anderen unterwirft, sondern eine ganze Gesellschaft bestimmten, partikularen Zwecken untergeordnet wird. Wo eine Minderheit (egal, wie sich diese zusammensetzt) Gültigkeit gegenüber einer Mehrheit beansprucht und durchsetzt, gilt Autorität als dauerhaftes, allgemeines Prinzip: Herrschaft.

Was ist also der Unterschied zwischen Autorität und Herrschaft?

Herrschaft ist immer autoritär: sie beansprucht allgemeine Gültigkeit und setzt diese in konkreten Situationen durch. Das herrschaftliche Verhältnis Staat/Gesellschaft drückt sich z.B. im autoritären Verhältnis Polizistin/Bürger aus. Autoritäre Situationen sind nicht immer herrschaftlich. Eine Situation zwischenmenschlichen Zwangs muss nicht direkt ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis durchsetzen. Welchen Zweck hat Herrschaft? Herrschaft braucht es nur da, wo dauerhaft entgegengesetzte Interessen ungleich verwaltet werden. Konkreter: In einer Gesellschaft gibt es immer eine Vielzahl von Einzelinteressen. Dass alle essen wollen, ist kein Problem, wenn genug Nahrung da ist. Erst wenn es mehr Bedarf als Angebot gibt, werden diese Einzelinteressen widersprüchlich. Wo Nahrung fehlt, können nicht alle satt werden - Konflikte bei realem Ressourcenmangel sind also unvermeidbar. Das Prinzip des Eigentums stellt aber zusätzlich künstliche Interessenskonflikte her. Eigentum bedeutet: nur ich habe Zugriff auf ein Ding und niemand sonst. Wenn nun die Mittel zur Produktion von Nahrung bzw. die Regale voller fertiger Nahrung einer einzigen Person gehören, sind alle anderen von ihr abhängig. Dieser Konflikt durch relativen, hergestellten Ressourcenmangel ist genau der Grund für die Notwendigkeit von Herrschaft: Die Interessen der eigentumslosen Massen müssen dauerhaft zugunsten der Eigentümer-Interessen unterdrückt werden. Diese Aufgabe, den Schutz von Eigentum, übernimmt der Staat. Also: Ein Gewaltmonopol braucht es nur in einer Klassengesellschaft, in der ein parasitäres Ausbeutungsverhältnis stabilisiert werden soll.

4 Warum Anarchist:innen keine Antiautoritären sind

Wir haben nun also Begriffe für Autorität und Herrschaft entwickelt. Noch nicht klar ist: Wie stehen Anarchist:innen zu diesen Dingen? Versuchen wir, dem nachzugehen.

4.1 Autorität als notwendiges Übel der Revolution

Anarcha-Kommunist:innen wollen eine freie und gleiche Welt nach dem Prinzip: Alle nach ihren Fähigkeiten, allen nach ihren Bedürfnissen. Autorität steht diesem Prinzip entgegen. Anarchist:innen sind insofern gegen Autorität, als sie die Grundlagen für eine Welt frei von Gewalt und ideologischer Verblendung schaffen wollen. Sie halten Autorität für ein Übel, das die Beziehungen zwischen Menschen vergiftet und freie Gemeinschaft unmöglich macht. Anarchist:innen sind in einem anderen Sinne keine Antiautoritären, weil sie Autorität nicht als absolutes, sondern in Teilen als notwendiges Übel ansehen: Zwangsverhältnisse können manchmal nur durch Zwang beendet oder verhindert werden werden. Hierzu einige Beispiele:

Revolution

Die heutige Herrschaft von Menschen über Mensch und Natur baut auf Jahrtausende der blutigen Durchsetzung ihrer Privilegien. Das skrupellose System des Profits zerstört schon jetzt sehenden Auges unser aller Lebensgrundlage, es wetzt und schwingt seine Säbel um das noch möglichst lange fortsetzen zu können. Je stärker unsere Bewegung ist, desto weniger Gewalt wird sie benötigen, um diese Verhältnisse zu beenden. Auch deshalb setzen sich Anarcha-Kommunist:innen für eine möglichst breite Mobilisierung der beherrschten Massen ein. Davon auszugehen, diese globale Ordnung der Gewalt würde sich vollständig gewaltfrei abschaffen lassen, ist jedoch unrealistisch.

Selbstverteidigung

Revolutionen finden normalerweise regional begrenzt statt. Wo immer ein (freiheitlicher) Sozialismus erkämpft wurde, sah er sich schwersten wirtschaftlichen, propagandistischen und militärischen Angriffen verfeindeter Machtblöcke ausgesetzt. Befreite Regionen werden so gezwungener Maßen vor die Wahl gestellt: Selbstverteidigung durch Milizen, Feindaufklärung usw., oder Scheitern. Solange eine etablierte Selbstverwaltung diesen Kampf für sinnvoll hält, spricht aus anarcha-kommunistischer Sicht nichts gegen ihn, denn die Alternative zum Sozialismus bleibt die Barbarei.

Soziale Konflikte

Ein Konflikt tritt da auf, wo sich Bedürfnisse gegenseitig ausschließen. Eine erfolgreiche Revolution würde die Grundlagen für künstliche soziale Konflikte, etwa Eigentum, abschaffen. Wo heute Reichtum und Armut nebeneinander existieren, würde es dann heißen: wenn es genug gibt, soll auch jeder genug haben. Trotzdem kann es auch in einer befreiten Gesellschaft zu Konflikten kommen, etwa bei realem Mangel an Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung. Von der Hungersnot zum Streit um Luxusgüter kann so eine Schlichtung notwendig werden. Genauso können unterschiedliche politische Ansichten bei Entscheidungsprozessen zu Reibung führen. Konflikte und deren Vermittlung sind ganz einfach Teil jeder noch so freien und gleichen Gesellschaft. Viele offene Fragen lassen sich von zentralen anarchistischen Konzepten klären:

  • Freie Vereinbarung: es muss Einzelnen stets frei stehen, Zusammenhänge zu verlassen und eigene zu gründen. Genauso muss es einer Gemeinschaft freistehen, Mitglieder, deren Verhalten sie für schädlich hält, auszuschließen, ihnen also die Rechte und Pflichten einer Mitgliedschaft abzuerkennen.
  • Kollektive Verantwortung: Innerhalb dieser frei gewählten Zusammenhänge gelten Verbindlichkeit und Solidarität doppelt: Kollektiv und Einzelne sind sich gegenseitig verpflichtet. Kollektive Beschlüsse sind für Einzelne bindend, zugleich ist das Kollektiv verantwortlich dafür, sein Mögliches zu tun, den Einzelnen diese verlässliche Teilhabe zu ermöglichen (zB. Schaffen von sicheren, zugänglichen, empowernden, diskurs-offenen Räumen). Einzelne sind verantwortlich für kollektiven Erfolg, das Kollektiv ist verantwortlich für individuellen Erfolg.

Diese allgemeinen Konzepte bieten Orientierung, es macht aber auch Sinn, sich nochmal konkreter zu überlegen, wie auf Grundlage dieser Ideen Konflikte bewältigt werden können. Sollten sich bei einer Entscheidungsfrage entgegengesetzte Positionen herausbilden gibt es grob drei Optionen:

  • Überzeugung: im Diskurs kann es einer Position gelingen, die andere von ihrer Haltung zu überzeugen. Oft wird sich schlicht das bessere Argument durchsetzen. Bei unbedeutenden Meinungsverschiedenheiten kann sich die Minderheit entscheiden, trotz Dissens, aber im Sinne der kollektiven Verantwortung, Zugeständnisse an die Mehrheit zu machen.

  • Kompromiss: Wenn beide Parteien auf ihrem Standpunkt beharren, kann es sein, dass ein Kompromiss möglich ist: beide Lösungen, Strategien, usw. können ganz einfach nebeneinander existieren.

  • Spaltung/Ausschluss: Bei unvereinbaren Positionen, auf denen beharrt wird, ist eine Spaltung nötig, bzw. der Ausschluss der unvereinbaren Minderheit. Fast alle diese Fälle, auch Spaltungen, sind einvernehmlich und erfordern keinen Zwang, also keine Autorität. Ein Ausschluss wird allerdings vom Kollektiv gegen die Ausgeschlossenen durchgesetzt. Wie autoritär dabei vorgegangen wird, muss situativ geklärt werden. Abschließend deshalb drei Beispiele und ein möglicher Umgang mit ihnen:

  • Arbeitsverweigerung: Wenn arbeitsfähige, erwachsene, gesunde Menschen nicht überzeugt werden können, sich gemeinschaftlich zu beteiligen, bleiben zwei Optionen: wo im Überfluss produziert wird, gibt es keinen Grund, sie vom Zugriff auf Lebensmittel auszuschließen. Gerade in den frühen Tagen (und Jahren) einer Revolution ist Überfluss allerdings nicht zu erwarten. Wer sich hier nicht beteiligen will ist vorerst auch kein Teil der Revolution und ihrer Früchte - es sei denn er findet eine Gemeinde, die ihn mitleidig versorgt (um hier Bakunin zu paraphrasieren).

  • Pressefreiheit: Diese und ähnliche Freiheiten sind grundsätzlich zentraler Bestandteil einer anarchistischen Gesellschaft und weitestmöglich zu garantieren. Das schließt auch kritische, falsche oder rechte Inhalte mit ein. Hier ist sozusagen nach Möglichkeit ein "Kompromiss", also das parallele Existieren diverser, auch widersprüchlicher Inhalte zu suchen. Diese Freiheiten haben eine Ausnahme:

  • Konterrevolution: Ob Warlords, Schwarzmärkte oder reaktionär/faschistische Strukturen: Sollten Gruppen oder Ideen, die sich für eine Abschaffung emanzipatorischer Errungenschaften Zugunsten herrschaftlicher Alternativen einsetzen, zu realen Bedrohungen werden, müssen sie im Sinne der revolutionären Selbstverteidigung bekämpft werden.

4.2 Herrschaft als Gefahr für die Revolution

Wer eine Welt ohne Autorität will, muss logischer Weise auch Herrschaft ablehnen. Weil die beiden aber nicht dasselbe sind, unterscheidet sich auch die anarchistische Kritik an ihnen. Herrschaft ist ein Übel, weil Autorität ein Übel ist. Anders als Autorität halten Anarchist:innen diese aber eben nicht für notwendig, sondern für grundsätzlich unbrauchbar und gefährlich für den Erfolg jedes Befreiungskampfes.

Die anarchistische Kritik der Verhältnisse sieht ein grundsätzliches Problem in ihrer herrschaftlichen Organisierung, und das aus zwei Perspektiven:

  • Kritik der kapitalistischen Herrschaft: Die kapitalistische Herrschaft existiert um die materielle Ausbeutung der Welt zum Profit von wenigen zu organisieren - sie produziert somit aktiv Krieg, Vertreibung, Kolonialisierung, Unterdrückung der Frau und jeder Abweichung der Cis-Hetero-Norm, Zerstörung von Umwelt und Lebensräumen, kurz: Massives Leid, Tod und die existenzielle Bedrohung von irdischem Leben überhaupt.
  • Kritik der Herrschaft an sich: Egal welche Ziele eine Herrschaft sich setzt: ein zentralisiertes Gewaltmonopol ist per Definition Unterdrücker seiner Bevölkerung, jedes Verhältnis zu und in ihm ist in einen Zwangskontext gebettet. Auch gut gemeinte Herrschaft ist parasitär: sie reißt die Macht der Menschen an sich und beansprucht, sie zu lenken. So entfremdet sie die Massen von ihrem politischen Potential oder treibt sie in die Rebellion - und muss dann mit Ideologie oder Gewalt antworten.
Was ist das Problem am Staatssozialismus?

Ein Staatssozialismus soll laut vielen Kommunist:innen als Übergang zum staatenlosen Kommunismus dienen. Doch es muss einer von zwei Fällen zutreffen: entweder kam ein sozialistischer Staat durch den Putsch einer Minderheit zustande und muss sofort beginnen, die Mehrheit des Volkes zu unterdrücken: das ist ein Machtwechsel, keine Revolution. Oder aber die Mehrheit des Volkes drückt ihren Wunsch nach Sozialismus durch Wahl oder Aufstand aus: wer dann meint, einen Staat zu errichten, tut nichts, als die bereits nach Kampf und Freiheit lechzenden Massen zurück in ihre Zwinger zu schicken. Wir glauben, dass eine nachhaltige Revolution nur von einer bewussten Mehrheit errungen werden kann. Wo das der Fall ist, sehen wir keinen Grund, eine selbstverwaltete Bewegung in einen fremdverwalteten Sozialstaat mit aufständigem Anstrich zu verwandeln.

Ist Herrschaft effektiver als Selbstverwaltung?

Herrschaft kann vor allem eines gut: die Privilegien einer Gruppe gegen andere durchsetzen. Immer wieder hört man aber auch von einem weiteren Vorteil: ein zentralisiertes Gewaltmonopol erlaubt effektive, überregionale Koordination von Macht. Doch ist das ein Alleinstellungsmerkmal von Herrschaft? Anarcha-Kommunist:innen würden widersprechen - eine dezentrale, föderierte Rätegesellschaft kann dasselbe ermöglichen. Die Idee ist kurz gesagt folgende:

  • Regionale Räte stellen die gesellschaftliche Basis einer solchen Selbstverwaltung dar. In ihnen sind die Menschen einer Region direkt beteiligt. Sie wählen also keine freien Repräsentant:innen, die in ihrem Amt dann nur sich selbst verpflichtet sind, sondern formen den gemeinsamen politischen Willen aktiv selbst.
  • Imperative Mandate ermöglichen eine kontrollierte Vertretung. Diese erhalten einen konkreten inhaltlichen Auftrag von ihrer Basis und müssen diesen weitertragen. Sie sind jederzeit rechenschaftspflichtig, abrufbar und austauschbar.
  • Föderationen sind überregionale Zusammenschlüsse von Räten. Zu ihnen werden Delegierte mit imperativem Mandat entsandt um breitere Entscheidungen zu treffen.

Durch ein solches System können großflächig politische Strategien umgesetzt werden, ohne auf ein zentrales Gewaltmonopol angewiesen zu sein. Die Mitglieds-Räte in Föderationen sind wie einzelne Mitglieder in Räten dazu angehalten, im Sinne der kollektiven Verantwortung Entscheidungen als verbindlich zu behandeln. Zugleich behalten sie stets die Kontrolle über die reale Macht ihrer Region - es gibt etwa kein Heer, das einem Präsidenten oder einer Regierung unterstellt ist, sondern höchstens Milizen, die sich gemeinsam, aber selbstbestimmt koordinieren. Imperative Mandate können bei Machtmissbrauch jederzeit widerrufen werden, Föderationen sind nur Hilfsmittel der Menschen zur politischen Koordination, niemals Akteur autoritärer Durchsetzung. Es ist wahr, dass sich so einzelne Regionen dem Rest widersetzen können, doch wem das Angst macht, der sollte sich vielleicht eher mit den eigenen Kontrollzwängen auseinandersetzen. Eine Bewegung wird entweder genug revolutionäres Bewusstsein und Organisationsgrad entfaltet haben, dass sie Konflikte auf Augenhöhe klären kann, oder sie war von Beginn an zum Scheitern verurteilt und hat noch nicht die Reife eines revolutionären Subjekts erreicht. In diesem Fall ist die Antwort die weitere Organisation und Bildung der Massen, nicht die autoritäre Entmündigung und Verdummung durch eine allwissende Parteiführung.

Warum ist Selbstverwaltung keine Herrschaft?

Herrschaft verwaltet die soziale Macht in zentralisierten Institutionen, die ihren Willen mit Ideologie bzw. Gewalt(androhung) gegen ihre Herrschaftssubjekte durchsetzen. Herrschaft ist verallgemeinerte Autorität.

Eine Föderation von freien Räten verwaltet die soziale Macht dezentral. Die letzte Kontrolle über ihre Ausübung bleibt bei den Menschen selbst. Eine solche Verwaltung ist nicht auf die ideologische Verblendung der Massen angewiesen, denn sie ist die Masse. In Ausnahmefällen der Selbstverteidigung kann sich eine Selbstverwaltung dazu entscheiden, Gewaltmittel anzuwenden. Diese Gewalt ist aber nicht der politische Regelfall sondern die Ausnahme, stets mit dem Zweck zu verhindern, dass Gewalt(androhung) zur maßgeblichen Vermittlungsform wird. Der anti-emanzipatorische Effekt der herrschaftlichen Entmündigung der Beherrschten ist in der Rätegesellschaft nicht gegeben, das Gegenteil, also die positive Entfaltung und gegenseitige Verstärkung individueller und sozialer Macht tritt ein.

5 Schluss

Die hier ausformulierten Begriffe finde ich am besten geeignet für trennscharfe und produktive Analysen. Ziel dieses Textes ist aber zweierlei: Einerseits soll mit falschen Fremdauslegungen und Selbstverständnissen anarchistischer Theorie aufgeräumt werden. Andererseits hoffe ich, Debatten über die zentralen Kategorien unserer Analysen anzustoßen, die im Idealfall das Bewusstsein für die Wichtigkeit genauer Begriffsarbeit und Argumentation schärfen.

Der Titel dieses Textes soll kein Clickbait sein: ich glaube tatsächlich, dass es sinnvoll ist, diese Begriffe klar auseinanderzuhalten. Den sozialen Anarchismus macht im Kern eine strategische Kritik aus: Kommunismus kann nicht herrschaftlich errungen werden. Diese Kritik wird von ihren Gegner:innen gerne verdreht in ein moralisch-naives ‚Organisation, Verbindlichkeit und Gewalt sind böse‘ – das ist aber gerade nicht ihr Inhalt. Viele Anarchist:innen werden sich weiter antiautoritär nennen wollen und einwenden: ‚ja, Zwang ist manchmal notwendig, aber wir verwenden ihn nur, um mehr Zwang zu verhindern!‘ Doch genau das sagt unser Staat auch. Seien wir ehrlich: Wer Fleisch isst, um sich für eine Tier-Befreiungsaktion zu stärken, ist kein Veganer und wer eine Revolution und ihre Verteidigung für notwendig hält, ist kein Antiautoritärer. Das zu erkennen macht eine nicht zur Leninistin, sondern ermöglicht gerade einen klaren Blick auf die wichtigen Unterschiede: erst so, denke ich, wird ein echtes Verständnis anarchistischer Analyse, Kritik und Strategie möglich.

Mit meinen Ausführungen sage ich nichts neues. Wer die anarchistischen Klassiker liest, wird merken: von Bakunin und Kropotkin über Goldman und Durruti bis Malatesta und Machno kommen die meisten zu ähnlichen Schlüssen. Die Krux liegt wie gesagt vor allem in den Begriffen - ob im Original oder durch Übersetzungen werden Macht, Autorität, Herrschaft usw. sehr unterschiedlich verwendet. Missverständnisse über anarchistische Positionen sind sicher oft Ergebnis anti-anarchistischer Propaganda, das erleichtert uns aber nicht von der Pflicht, uns selbst kritisch zu prüfen. Wer weiterführende Gedanken oder Kritik meiner Ausführungen hat, sei herzlich eingeladen, mir öffentlich oder per Mail (mo.ibk@proton.me) zu antworten.

Was mir beim Schreiben geholfen hat:

Mo

Mo ist Anfang 20 und Anarchist. Er lebt in Innsbruck und mag Berge, Bücher & Sport. Mo ist organisiert bei ankom*a, dem Anarcha-Kommunistischen Aufbau Ibk.

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