Sind wir Aktivist:innen oder Revolutionär:innen?


Anarşist Dergi Karala Eray D.
Theorie Aktivismus

Den Originaltext aus Anarşist Dergi Karala von 2022 findet Ihr hier

Die Definition von Aktivismus kann sich je nach Quelle unterscheiden. Die gängige Definition von Aktivismus ist definiert als eine bewusste Tat, Arbeit, Bemühung, um einen sozialen Wandel herbeizuführen. Einigen zufolge besteht der Unterschied zwischen einem/einer Aktivist:in und einem/einer Politiker:in darin, dass er/sie seine/ihre Ziele durch Demonstrationen, Plakate und Kampagnen erreichen will und nicht durch staatliche Einrichtungen wie das Parlament. Wenn man das so liest, klingt das sicher gut, denn auch Revolutionär:innen versuchen, soziale Veränderungen durch bewusste Aktionen zu erreichen, auch Revolutionär:innen nutzen das Parlament nicht, um ihre Ziele zu erreichen. Was also unterscheidet Revolutionär:innen von Aktivist:innen? Nach diesen gängigen Definitionen scheint es keinen großen Unterschied zu geben, denn die gängige Definition von Aktivismus ist eigentlich ziemlich manipulativ. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Revolutionär:innen sich mit den Wurzeln des Problems befassen, Aktivist:innen mit den Folgen. Für Revolutionär:innen besteht die Lösung darin, zu zerstören und zu schaffen, für Aktivist:innen darin, zu restaurieren. Betrachten wir diese Unterscheidung ein wenig genauer.

Die Ziele der Aktivist:innen sind auf ein bestimmtes, wenn auch manchmal politisches Ereignis ausgerichtet. Aktivist:innen streben nicht die Abschaffung von Staat oder Kapitalismus an, denn weder der Staat noch der Kapitalismus sind das Problem. Das Problem ist in der Regel die Unternehmenspolitik, das Versagen der Regierung, das Versagen verschiedener Institutionen bei der Ausübung ihrer Aufgaben, das Versagen der relevanten Teile des Systems oder auch die mangelnde Sensibilität oder das fehlende Bewusstsein der Gesellschaft. Diese verengte Perspektive führt dazu, dass die gesamte Arbeit des Aktivismus auf ein einziges Feld reduziert wird. Andere soziale Probleme, ob verwandt oder nicht, sind immer ein anderes Thema. Nur das genannte Thema ist wichtig und der Fokus liegt immer auf einem einzigen Anliegen. Die Ziele und Mittel von Aktivist:innen sind immer in Zusammenarbeit mit dem System. Sie tun nichts, was das System nicht will. Da ihr Problem nicht das System ist, handeln sie innerhalb der Grenzen, die das System zulässt, und wenn das System es zulässt, werden sie auch erfolgreich sein. Der Aktivismus ist ein Bereich, in dem das System diejenigen, die gegen es sind, für eigene Zwecke benutzt.

Beispielsweise definieren Umweltaktivist:innen die aktuelle Krise in der Welt, indem sie sie zunächst von ihrem eigentlichen Ursprung trennen. Man kann sie globale Erwärmung, Klimakrise, Umweltkatastrophe oder sonst etwas nennen. Die Lösung der vom Kapitalismus verursachten ökologischen Probleme wird bei den Unternehmen und Staaten gesucht. Das Problem liegt nicht im Wesen des Kapitalismus, sondern in seiner Form: Der Kapitalismus muss grün gestrichen werden. Das Ziel wird umgelenkt, die Unterdrückten werden auf diese Weise abgelenkt. Fabriken sollten Filter einbauen, Regierungen sollten die Kohlenstoffemissionen reduzieren und zahlreiche Bäume pflanzen. Jeder sollte Geld auf das Konto einer trojanischen Stiftung oder eines Vereins einzahlen oder eine SMS an 9999 senden. Bekämpfen Sie die ökologische Krise mit einer SMS! Falls Sie keine SMS senden können, sollten Sie keinen Müll auf den Boden werfen, die Meere nicht verschmutzen und den Wasserhahn nicht offen lassen. Der Schaden, den riesige Fabriken der Erde seit Jahren zufügen, ist gar nichts, und Sie werden plötzlich der Grund für all diese Probleme! Es wird höchstens ein bisschen weiter geschaut und gesagt, dass Sie unwissend und ungebildet sind. Eine riesige Zerstörung, die von Zehntausenden gigantischer Fabriken, die nur für den Profit arbeiten, und von Staaten, die nur für die Macht handeln, verursacht wird, wurde bereits Ihnen und mir, angelastet, weil wir den Plastikmüll in unseren Häusern nicht recyceln (!). "Was für abscheuliche Menschen wir sind! Wir denken an niemanden außer an uns selbst, wir denken nicht an unseren Planeten! Unser Planet stirbt wegen uns und bald werden wir alle unter Wasser sein!" Und was ist somit geschehen? Die ökologische Krise wurde auf das Individuum oder die Individuen reduziert, und der Kapitalismus sowie der Staat sind damit davongekommen.

Wenn Unternehmen ökologische Massenvernichtungen begehen, so liegt das nicht an der Gefühllosigkeit der Unternehmensleiter. Die Verantwortlichen beschließen nicht, weniger Profit zu machen, um keine ökologischen Massenvernichtungen zu begehen. Der Kapitalismus basiert auf Konkurrenz, Profit, Kapital und Kapitalerweiterung. Deshalb neigt es dazu, sich ständig zu erweitern. Daher hat es zwangsläufig nur einen Schwerpunkt: Profit zu machen und diesen zu erhalten. Auch Unternehmen können also zu Aktivist:innen für diese Angelegenheiten werden. So gab der Einzelhandelsriese Walmart bekannt, dass es seine Stromkosten durch die Umstellung auf natürliche Beleuchtung um %17 gesenkt hat, was ein großer Schlag gegen unnötigen Energieverbrauch sein könnte. Oder die Pornoseite Pornhub könnte ankündigen, dass sie pro 100 angeschaute Videos einen Baum pflanzt und damit ein Zeichen gegen die ökologische Krise setzt. Abgesehen von der Bedeutungslosigkeit des gepflanzten Baums oder des geringeren Energieverbrauchs im Kampf gegen die ökologische Krise, wird Walmart gelobt, als ob es nicht Tausende von Arbeiter:innen ausbeuten würde, und Pornhub, als ob es nicht eine riesige Industrie weiter ausbauen würde, die Frauen Objektifiziert und erniedrigt. Eines der wichtigsten Dinge, die den Staat und den Kapitalismus heute am Leben erhalten, ist die Fähigkeit, die Realität zu verbiegen, sie zu manipulieren und Illusionen zu schaffen. Aktivismus ist einer der wichtigsten Instrumente, die dem Staat und dem Kapitalismus in diesem Bereich auch objektiv gehören. In diesem Bereich gibt es nur "ich", und solange du "ich" bleibst, auch wenn du aus Millionen bestehst, kannst du keine Gefahr für den Staat und den Kapitalismus darstellen.

Wir Anarchist:innen kämpfen für das Gegenteil der vom System aufgezwungenen Beziehungsformen; für die Vergesellschaftung des Teilens und der Solidarität; für die Abschaffung des Staates und des Kapitalismus, die wir als Quelle sozialer Ungerechtigkeit betrachten. Deshalb sind wir Revolutionär:innen und keine Aktivist:innen. Solange diese Quelle nicht versiegt, wird sich für die Unterdrückten nichts ändern. Wir können jedoch nicht auf die Revolution warten, die eines Tages in der Zukunft stattfinden wird, um diese Quelle zu versiegen. Wir müssen jetzt damit beginnen, diese Quelle zu versiegen, und zwar genau jetzt. Wir müssen die Revolution schon heute weben, indem wir auf die Vergesellschaftung des Teilens und der Solidarität abzielen, statt auf die systembedingten Machtverhältnisse in der Gesellschaft wie Konkurrenz und Egoismus. Wir müssen das, wovon wir heute träumen, mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Organisationen verwirklichen, die sich im Rahmen von Beziehungen des Teilens und der Solidarität gegen die vom Staat und vom Kapitalismus auferlegten Beziehungsformen bilden: Wir müssen damit beginnen, den Staat und den Kapitalismus abzuschaffen, wir müssen die Revolution verwirklichen.

Autor: Umut Adnan Aydemir
Übersetzt von: Eray Doğan (2024) aus unserer Discord-Community

Eray D.

Eray D. , verbrachte 4 Jahre in der Hauptstadt der Türkei, wo er politische und wirtschaftliche Probleme hautnah miterlebte. Die Erfahrungen prägten sein Denken und führten dazu, dass er bereits in jungen Jahren begann, Autorität und Ungleichheit zu hinterfragen. Durch seine persönlichen Erfahrungen wurde er zunehmend von anarchistischen Ideen inspiriert und begann, in dieser politischen Philosophie eine Möglichkeit zu sehen Autorität und Ungleichheit zu Überwinden.
Heute lebt er in Deutschland und übersetzt leidenschaftlich Texte von Anarchist:innen aus der Türkei für den Deutschsprachigen Raum.

Vorheriger Beitrag Nächster Beitrag