Anarchist:innen kämpfen gegen Autorität und Ordnung. Doch politisch kämpfen bedeutet organisiert (= Ordnung) den eigenen Willen durchzusetzen (= Autorität). Anarchismus ist also widersprüchlich und unmöglich.
Solche und ähnliche Urteile kennen wir Anarchist:innen nur zu gut aus Gesprächen mit marxistischen Genoss:innen. Nicht selten folgt darauf ein Verweis auf das Schriftstück, das doch wirklich alles abschließend erkläre: Von der Autorität (1873) von Friedrich Engels. 'Der Text muss wirklich gut sein', denkt man sich, 'wenn er wohl seit 150 Jahren jede weitere Diskussion erübrigt.' Und tatsächlich: wer sich das wirklich sehr kurze Essay antut, wird sich wundern - allerdings vor allem darüber, warum man so etwas je weiterempfehlen würde.
Weil das trotzdem regelmäßig passiert, will dieser Text:
- Darlegen, warum Engels Argumentation in sich schlecht ist.
- Zeigen, warum die wenigen banalen Wahrheiten seiner Kritik möglicherweise auf einzelne Unabomber-Fans in Waldhütten, aber sicher nicht auf den sozialen Anarchismus zutreffen.
- Und das in noch weniger Text als Engels (<9.279 Zeichen)
Anmerkung: Engels schreibt hier gegen "Antiautoritäre", nicht Anarchist:innen an - da ein Jahr zuvor die anarchistische Fraktion Michail Bakunins aus der Internationalen Arbeiterassoziation ausgeschlossen wurde, kann man aber davon ausgehen, dass diese (mit)gemeint waren. Egal ob das stimmt: heute wird der Text gegen Anarchist:innen aller Art zitiert. Es reicht also aus sozialanarchistischer Perspektive (s.u.) nicht, sich zurückzulehnen und nicht angesprochen zu fühlen: der Text meint und schadet auch uns.
Engels Argumentation
Sehen wir uns zuerst an, wie Engels hier argumentiert. Folgendes sind die Kernaussagen seiner 10 Absätze:
- Autorität ist die "Überordnung eines fremden Willens über den unseren". (Abs. 1)
- Jede organisierte Gesellschaft ist auf Autorität angewiesen. (Abs. 2) Dazu drei Beispiele: Eine Spinnerei oder ein Eisenbahnnetz kann nur funktionieren, wenn alle der "Autorität des Dampfs" und allen Zwecken und Mitteln der Produktion (Arbeitszeiten, Materialverteilung, Ziel der Arbeit, ...) folgen, egal wie diese festgelegt wurden (Abs. 3, 4) Auch auf hoher See ist man auf die Befehle von Captains angewiesen. (Abs. 5)
- Die antiautoritäre Erwiderung, es handle „sich nicht um eine Autorität, die wir den Delegierten verleihen, sondern um einen Auftrag!“ ist unzulässig, sie ändert nur den Namen einer Sache, die gleich bleibt. (Abs. 6)
- Zwischenfazit: Es gibt keine Gesellschaft ohne Autorität. (Abs. 7)
- Antiautoritäre halten zudem blind jede Autorität für absolut schlecht und jede Autonomie für absolut gut - beide Prinzipien sind aber relativ. (Abs. 8)
- Sie wollen mit einer Revolution den Staat auf einen Schlag abschaffen. Das ist einerseits unrealistisch, andererseits ist "(e)ine Revolution (...) gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt". (Abs. 9)
- "Also von zwei Dingen eins: Entweder wissen die Antiautoritarier nicht, was sie sagen, und in diesem Fall säen sie nur Konfusion; oder sie wissen es, und in diesem Fall üben sie Verrat an der Bewegung des Proletariats. In dem einen wie in dem anderen Fall dienen sie der Reaktion." (Abs. 10)
Am Text selbst lässt sich erkennen, dass Engels einen relativ unbrauchbaren Begriff von Autorität hat. Das auf zwei Ebenen:
- Begriffliche Widersprüche:
- Autorität und Notwendigkeit: Engels definiert Autorität als hierarchisches Willensverhältnis. Als Beispiel nennt er die Notwendigkeit, sich den Naturgesetzen von Dampf zu unterwerfen, wenn man mit ihm Arbeiten will. Doch objektive Notwendigkeit und Autorität schließen sich aus. Denn wer sich dem Tag-Nacht-Wechsel oder den physikalischen Eigenschaften von Dampf anpasst, ordnet sich keinem fremden Willen, sondern einem Sachzwang unter. -> Notwendigkeit ist nicht Autorität.
- Autorität und Koordination: Für Engels ist es außerdem autoritär, einem kollektiven Willen zu folgen - egal, wie dieser geformt wird. Wenn sich die Arbeiter:innen einer Fabrik jedoch gemeinsam den Zweck setzen, Faden zu produzieren, dann ist der Produktionsprozess Ausdruck ihres eigenen Willens und eben kein fremder Wille, dem sie sich unterordnen. -> Kooperation ist nicht Autorität.
- Begriffliche Unschärfe:
- Für Engels scheint praktisch jedes Willensverhältnis autoritär zu sein: Objektive Notwendigkeit (Dampf), freie Kooperation (Fabrik), Abhängigkeit von anderen (Lokführerin), gewählte Delegation (Kapitän), Selbstverteidigung und Kampf gegen Autorität (Revolution) sind allesamt - Trommelwirbel - Autoritär. Doch ein Begriff, der alles fassen will, verliert seine Schärfe: wenn alles Autorität ist, dann ist es natürlich sinnlos, diese zu bekämpfen. Anarchist:innen schlagen aber eine präzisere Definition vor und sind eben deshalb zu einer Analyse fähig, die mit Engels Begrifflichkeit unmöglich wäre.
Anarchistische Analyse
In der Geschichte haben sich viele "anarchistisch" genannt. Individualistische Anarchist:innen setzen (wie Engels) Organisation mit Herrschaft gleich und lehnen sie deshalb zugunsten individueller Autonomie ab; konsequenter Weise stellten sie nie eine relevante gesellschaftliche Kraft dar. Die Analyse der sozialen Anarchist:innen kann im Gegenzug zeigen, dass Organisation ohne Autorität für ein gutes Leben möglich und notwendig ist:
- Macht ist die allgemeine Fähigkeit, den eigenen Willen umzusetzen.
-> Macht ist nicht Autorität.
- Autorität ist die Durchsetzung eines Willens gegen andere mit Zwangsmitteln (also ein besonderes Machtverhältnis)
- Der Bäcker ist mir gegenüber keine Autorität. Ich bin zwar gezwungen zu Essen und damit abhängig von seinem Willen für mich zu backen, er selbst zwingt mich aber durch sein Bäcker-Sein zu nichts. Die Feuerwehrfrau ist ebenso wenig autoritär wenn ich ihr helfe, mein Haus zu löschen - sie ist Fachfrau und ich befolge genötigt von den Sachzwängen (nicht von ihrer Kompetenz) ihre Anweisungen. (1) -> Abhängigkeit ist nicht Autorität.
- Gesellschaft ist das Bündeln der Macht vieler (= soziale Macht). Das kann unterschiedlich aussehen:
- Herrschaft zentralisiert soziale Macht und schützt sich durch Gewalt und Ideologie. Herrschaft ist verallgemeinerte Autorität.
- Anarchie wäre eine Gesellschaft ohne Herrschaft. Anders als heute (herrschender Wille wird gegen das Kollektiv durchgesetzt) kämpfen wir für eine Welt, in der das Kollektiv seinen eigenen Willen bildet und ihn mit der gebündelten Macht aller umsetzt. (Das ist nur die machttheoretische Perspektive auf Anarchismus. [Mehr zu Anarchokommunismus] (https://anarchismus.de/stroemungen/anarchokommunismus)) -> Kooperation ist nicht Autorität.
- Kollektive Willensbildung kann gerade auf größeren Ebenen kompliziert werden. Anders als Engels differenzieren Anarchist:innen:
- Ein Repräsentant ist durch Wahl legitimiert und kann eigenständig und ohne Rechenschaftspflicht entscheiden. Sein Wille als legitimierter Repräsentant ist den anderen übergeordnet. Er kann ihn je nach Struktur mit Zwang durchsetzen.
- Eine Delegierte hat einen klaren inhaltlichen Auftrag ihrer Basis, an den sie gebunden ist. Sie ist jederzeit abwählbar und somit nicht mehr als ein Werkzeug des kollektiven Willens (nicht ihm übergeordnet). -> Delegation ist nicht Repräsentation/Autorität.
- Anm. zur Konsensfrage: Freie Vereinbarung und Zusammenhalt sind hohe Prinzipien im Anarchismus. Bedingung der Teilnahme an einer anarchistischen Struktur (die nach maximaler Bedürfnisbefriedigung strebt) ist das solidarische Einbringen im Rahmen der eigenen Fähigkeiten. Anarchistische Strukturen sind darauf ausgelegt, möglichst hohe Grade der Selbstbestimmung und Einigkeit zusammenzubringen. Doch es kann durchaus Meinungsverschiedenheiten geben. Zum Zusammenhalt gehört manchmal auch das freiwillige Akzeptieren von Mehrheitsbeschlüssen, die man selbst ablehnt. Dabei ordnet man einen Teilwillen einem selbst gesetzten, größeren Zweck unter: Außer von den eigenen Bedürfnissen nach der Gemeinschaft und ihren Vorzügen wird man von nichts zur Teilhabe genötigt.
- Eine anarchistische Revolution will nicht einfach schlagartig die Anarchie einläuten. Statt einer politischen Revolution (Erringen der Herrschaft) soll es eine soziale geben, d.h. ein Niederringen von Herrschaft. Revolution ist kein episches Großereignis sondern ein langer Prozess des Klassenkampfes, in dem die Beherrschten die Kontrolle über ihre ausgebeutete soziale Macht zurückerobern. Dabei kann auch Gewalt notwendig sein - ob man die Sklavin, die ihren Herren niederschlägt, ob man Befreiung und Selbstverteidigung autoritär nennen will, kann man diskutieren. Jedenfalls erkennt jede:r vernünftige Anarchist:in, dass Fesseln, die sich nicht lösen lassen, gesprengt werden müssen.
Es sollte klar geworden sein, dass, während es viel treffende (Selbst-)Kritik in der anarchistischen Theorieentwicklung gibt, Engels Text nicht dazu zählt. Es bleibt nur eine Schlussfolgerung: Entweder weiß Engels nicht, was er sagt, und in diesem Fall sät er nur Konfusion; oder er weiß es, und in diesem Fall übt er Verrat an der Bewegung des Proletariats. In dem einen wie in dem anderen Fall dient er der Reaktion. (2)
Endnoten:
(1) Ich halte die von mir angeführte Verwendung von Autorität für begrifflich am sinnvollsten. Sollte jemand aber einen breiteren Autoritätsbegriff vorziehen, will ich mit Errico Malatesta sagen: "glaubten wir, dass eine Organisation ohne Autorität unmöglich wäre, so wären wir autoritäre Personen, denn wir ziehen noch immer die Autorität, die das Leben beschwert und betrübt, der Nichtorganisation vor, die es unmöglich macht. Im Übrigen ist es uns ziemlich unwichtig, was wir wären. Wenn es wahr wäre, dass der Maschinist, der Zugführer und der Oberschaffner notwendigerweise Autoritäten sind, statt Genossen, die für alle eine bestimmte Arbeit tun, würden die Fahrgäste immer noch lieber ihre Autorität erdulden als zu Fuß zu reisen. Wenn es sein könnte, dass der Postbote eine Autorität wäre, ertrüge jeder Mensch mit gesundem Verstand eher die Autorität des Postboten, als die eigenen Briefe selbst auszutragen. Also ... die Anarchie wäre der Traum einiger weniger, doch könnte er sich niemals realisieren." (3a)
(2) 9.225 Zeichen!
(3) Zur Vertiefung eignen sich u.a.:
a) Errico Malatesta: Organization (Englisch)
b) Errico Malatesta: Anarchie
c) JudgeSabo: Read on Authority (Englisch, ausführlicher)