Vorbemerkung:
der folgende text ist ein Auszug aus dem Buch "FREIHEIT PUR - Die Idee der Anarchie,
Geschichte und Zukunft" von Horst Stowasser aus dem Jahr 1995.
Das Buch fand sich als Medienempfehlung bereits auf der alten anarchismus.de-Seite und ist auch weiterhin eine Empfehlung.
"Die Deutschen sind ein Volk, das in hohem Maße von der Staatsidee durchdrungen ist." - Michail Bakunin
DEUTSCHLAND WAR NIEMALS EIN LAND, in dem libertäre Ideen eine wichtige Rolle
gespielt haben, und ohne Zweifel stimmt grosso modo die Sichtweise von einem eher
angepaßten und staatstreuen Volk mit einem ausgeprägten Anlehnungsbedürfnis an die
jeweils angesagten Autoritäten. Aber eben nur grob gesehen. Eine verfeinerte Optik offenbart Deutschland als ein Land, in dem es einige erstaunliche Entdeckungen zu machen gibt.
Ein Land, das zwar Stiefkind der libertären Bewegung blieb, aber allemal gut ist für die eine
oder andere Überraschung.
Wie zum Beispiel jene syndikalistischen Bergarbeiter aus Dortmund und Umgebung, die
am 20. Januar 1919 als Welturaufführung den Sechsstundentag einführen. Sie besetzen die
Zeche »Minister Achenbach«, bilden einen Zechenrat, sozialisieren den Betrieb und fahren
nur noch die Sechsstundenschicht. Ihr Beispiel funktioniert zur allgemeinen Zufriedenheit
außer der der Unternehmer und macht in kürzester Zeit Schule: Vierzig weitere Zechen
schließen sich an, und im Februar steht der größte Teil des Ruhrbergbaus unter der Kontrolle der Arbeiter. Andere Industriezweige verfahren nach dem gleichen Muster: selbst
handeln, direkt agieren, nur noch sechs Stunden arbeiten. Das Herz der Schwerindustrie in
der Hand von Syndikalisten, der Bergbau als Experimentierfeld der direkten Aktion? Das
erstaunt selbst Historiker, und kaum jemand würde so etwas ausgerechnet in Deutschland
vermuten, gelten doch deutsche Arbeiter bis heute als lammfromm und fest im Griff der sozialdemokratischen Gewerkschaften. Eben diese aber hatten damals durch ihre Paktiererei
mit der kaiserlichen Kriegswirtschaft viel an Glaubwürdigkeit verloren und waren bei den
Kumpels unten durch. Auch die staatliche Autorität war durch den verlorenen Krieg und die
Novemberrevolution bis in ihre Fundamente erschüttert. So blieb ihr nichts anderes übrig,
als sich zurückzuhalten.
Drei Monate zuvor war durch das Deutsche Reich eine Welle des Umsturzes gegangen, in der
Arbeiter- und Soldatenräte dem alten Regime die Machtfrage gestellt hatten. Kriegsmüde
Matrosen und Landser*, hungernde Frauen und Kinder, die ausgemergelten Arbeiterinnen
und Arbeiter der kriegswichtigen Industrien hatten die soziale Revolution auf die Tagesordnung gesetzt. Auslöser dieser »Novemberrevolution« waren Meutereien der kaiserlichen
Matrosen in Wilhelmshaven und Kiel, deren Beispiel – gerade so wie ein Jahr zuvor in Rußland – wie ein Lauffeuer das ganze Land erfaßte. Vielerorts übernahmen die »A+S–Räte«
faktisch die Macht, »Räterepubliken« entstanden von Ostfriesland bis nach München. Die
Räte führten den Sturz des Kaisers herbei, verjagten die fürstlichen Dynastien in den einzelnen Ländern und begannen sofort mit der Organisation des sozialen Lebens. Ganz oben auf
der Tagesordnung standen Probleme: Hunger, Kälte und die Kriegsfolgen. Politisches Nahziel
war das Ende von Preußentum, Militarismus und Klassenstaat, als Endziel schwebte ihnen
ein freies Deutschland vor, sozialistisch in dem Sinne, daß die einfachen Leute jetzt das Sagen haben sollten. Der Adel müsse enteignet, die Industrie sozialisiert, der Obrigkeitsstaat
durch einen Volksstaat ersetzt werden. Auf jeden Fall sollten die Räte zur Grundstruktur
werden, auf keinen Fall wollte man sich mit der bloßen Einführung einer parlamentarischen
Demokratie zufriedengeben. Das Modell eines »Rätedeutschland« sollte internationalistisch
sein, in friedlichem Miteinander mit den anderen europäischen Völkern, von denen man
ebenfalls eine »proletarische Revolution« erhoffte.
Unterstützung fand diese Bewegung jenseits der noch unbedeutenden anarchistischen
Zirkel vor allem in Kreisen sozialdemokratischer Oppositioneller, die während des großen Völkermordens zu Kriegsgegnern geworden waren – namentlich der Unabhängigen
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und dem Spartakusbund. Inzwischen aber hatte
das untergehende Kaiserreich ›loyale‹ Sozialdemokraten vom alten Schlag in die Regierung
gehievt und so einen Rettungsanker zurückgelassen, mit dessen Hilfe sich die konservativbürgerlichen Kräfte in Deutschland behaupten sollten. Hurra-Patrioten aus Kaiser Wilhelms
Kriegskabinett wie Friedrich Ebert, Gustav Noske und Philipp Scheidemann bildeten 1918
eine neue, SPD-geführte Regierung, die aber weitgehend im Leeren regierte. Die »Arbeitermassen« waren weit radikaler als ihre traditionellen Führer; sie wollten mehr als einen
sozialdemokratischen Kanzler – sie wollten das, was seit fünfzig Jahren angeblich das Ziel
der SPD war: eine Revolution.
So lief denn im Winter 1918/1919 alles auf ein Ringen zwischen SPD und Rätebewegung
hinaus, zwischen Restauration und Revolution, zugespitzt in der entscheidenden Frage:
Verfassungsgebende Nationalversammlung oder Rätedemokratie. In Berlin fiel zum Jahresbeginn die Entscheidung, und sie fiel nach klassischer Manier durch die Macht der Waffen.
Sozialdemokratische Politiker scheuten sich nicht, mit Artillerie und Minenwerfern gegen
Arbeiterviertel vorzugehen. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Führerfiguren des
»Spartakus«, wurden ermordet. Rechtsnationale »Freikorps«-Truppen stellten das wieder
her, was Ebert unter Ordnung verstand.
Die deutsche Revolution von 1918 blieb eine unvollendete Revolution. In ihr setzte das
konservative Deutschland die schärfste Waffe ein, die sie noch in Händen hielt: die deutsche
Sozialdemokratie. Sie war seit den Tagen der Ersten Internationale beharrlich den Weg des
Parlamentarismus gegangen und folgerichtig von einer revolutionären Bewegung zu einer
staatstragenden, ja patriotischen Partei geworden. Aber noch konnte niemand so recht an
diese Ungeheuerlichkeit glauben. Die Arbeiter am allerwenigsten. Als sie sahen, daß ›ihre
Partei« mit den alten Kräften des untergegangenen Reiches gleiche Sache machte, wandten
sich viele von ihr ab. So leicht wollten sie ihr Ziel einer sozialen Umwälzung nicht aufgeben,
und die Gelegenheit hierfür schien günstiger denn je. Die Regierung des frischgebackenen
Reichskanzlers Ebert saß alles andere als fest im Sattel.
In diesem Klima fanden jene Zechenbesetzungen im Ruhrgebiet statt, in denen der Sechsstundentag ›erfunden‹ wurde. Ein günstiges Klima für entschlossenes Handeln und direkte
Aktionen: Wertekrise und Machtvakuum. Die in Gang gesetzte Bewegung konnte sich recht
unbehelligt entwickeln – der verunsicherte Staat hielt sich raus, und die Betriebsräte stellten
die Grubenbesitzer vor mehr oder weniger vollendete Tatsachen. Die SPD mauerte und bereitete sich ganz behutsam darauf vor, die Lage wieder in den Griff zu kriegen.
Unterdessen übten sich die Kumpel in der schwierigen Kunst der Selbstverwaltung. Sie
waren praktisch über Nacht in den Besitz der Bergwerke gekommen und betraten Neuland.
Unter ihnen gab es nur wenige Fachleute oder Arbeiter mit entsprechender Vorbildung. So
mußten sie sich ganz überwiegend darauf beschränken, Verwaltung, Wirtschaft und Bürokratie der Zeche zu kontrollieren. Die generalisierte Selbstverwaltung, die ihnen vorschwebte, auch tatsächlich durchzuführen, darauf waren sie nicht vorbereitet. Wann hätten sie dies
in den langen Kriegsjahren auch lernen sollen?
Aber sie machten Ernst mit ihrer Vision von der Sozialisierung. Zunächst erstellten sie
einen Arbeitsplan und führten das neue Schichtsystem ein. Dadurch erreichten sie für die
ausgehungerten Bergleute menschlich verkraftbare Arbeitszeiten, stellten die Förderung
sicher und erhöhten sogar die Produktion. Dann zwangen sie die Verwaltung zur Einstellung neuer Arbeitskräfte, womit sie viele Arbeitslose und deren Familien satt machten. Sie
schmissen besonders verhaßte Schinder aus den Betrieben, organisierten den Vertrieb der
Kohle, tauschten teilweise direkt mit Bauern aus der Umgebung und wachten über eine gerechte Verteilung der Güter. Sie setzten das um, was sie in ihrem selbstverfaßten Manifest so
ausgedrückt hatten: »Die Bergarbeiter verschaffen sich selbst mehr Freiheit und ein einigermaßen erträgliches Dasein.«
Der andere Teil ihres Programms war weit schwieriger zu erreichen: »Die Sozialisierung
des Bergbaues im Sinne der Enteignung des privaten Kapitals, die Übernahme der Kohlenschätze und der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit und die Verwaltung des
Bergbaues durch die Bergarbeiter.« Hierzu fehlte es an einer entscheidenden Vorbedingung,
die Der Syndikalist später etwas pathetisch aber treffend formulierte: Der deutsche Arbeiter
müsse erst »körperlich und geistig reif für die soziale Revolution« werden. Er war an vielen
Orten dazu bereit, aber nicht vorbereitet. Die Dortmunder Syndikalisten wußten, was sie wollten, aber nicht genau, wie. Eines jedoch war klar: die Bewegung konnte nur dann erfolgreich
sein, wenn sie auf ganz Deutschland übergriff. Der öffentliche Druck müßte stark genug sein,
das Eingreifen des Staates zu verhindern, hinauszuzögern oder entscheidend zu schwächen.
Die Bergleute wußten, daß sie Vorreiter waren und den Menschen nicht davongaloppieren
durften. Sie suchten Verbündete und fanden sie in Spartakus und USPD. Gemeinsam organisierte man riesige Demonstrationen und Massenkundgebungen auf denen rüberkam, was
im Ruhrpott Sache war: Man wollte soziale Verbesserungen. Man wollte Taten statt Worte.
Und man wollte die Übernahme der Produktionsmittel durch »die Gesamtheit« – das Wort
Staat fiel nicht. Verstaatlichung war für die Arbeiter des Jahres 1919 kein Thema.
Als Ende März in Witten Angehörige eines Freikorps in eine Demonstration schossen
und mehrere Arbeiter töteten, kam es zu spontanen Arbeitsniederlegungen, die sich rasch
zu einem Generalstreik ausweiteten. Weitreichende politische Forderungen wurden laut. Das
war für die Reichsregierung der willkommene Anlaß, durchzugreifen und den Belagerungszustand zu verhängen. Damit galt automatisch das Kriegsrecht. Die Macht lag nun in den
Händen des Generalleutnants Freiherr von Watter, eines preußischen Bilderbuchmilitärs,
und der machte ganze Arbeit. Die »führenden Agitatoren« wanderten in Schutzhaft, Versammlungen und Publikationen außer denen der SPD wurden verboten. Deren Gewerkschaften übernahmen nun taktisch geschickt die Forderung nach dem Sechsstundentag und
verkündeten nach kurzen Verhandlungen stolz den errungenen Sieg: siebeneinhalb Stunden
und Schmalzstullen für alle!
Der erste große autonome Bergarbeiterkampf des Ruhrgebietes stand plötzlich ohne Kopf
da. Dennoch hielt der Streik, nahm sogar an Intensität noch zu. In etlichen Betrieben verhinderten die Arbeiter nun auch sogenannte ›Notschichten‹, die die Anlagen vor größeren
Schäden bewahren sollten. Bei Hoesch ließ man einen Hochofen in aller Ruhe ausglühen
und ruinierte ihn so für mindestens ein Jahr. Unternehmer und Sozialdemokraten waren
entsetzt – sowas hatten deutsche Arbeiter noch nie getan! Vierzig Tage hielt der Widerstand
an, erst dann begann die Streikfront zu bröckeln. Die SPD propagierte Vernunft und stellte
»die Behandlung der Sozialisierungsfrage im Reichstag« in Aussicht. Die erste Kraftprobe
war verloren, aber die Arbeiter hatten viel gelernt. Von einigen Zechen ist belegt, daß sie noch
ein volles Jahr lang den Sechsstundentag beibehielten.
Der Moment, aus diesen Lehren Konsequenzen zu ziehen, sollte schon bald kommen: Am 13. März 1920 putscht der rechtsradikale Politiker Wolfgang Kapp gegen die Reichsregierung
in Berlin. Unterstützt wird er von dem Reichswehrgeneral von Lüttwitz und der Marinebrigade Ehrhardt, dem ersten Freikorps, das Hakenkreuze an den Stahlhelmen trägt. Die Regierung flieht aus Berlin, die Faschisten marschieren auf die Hauptstadt und – aufs Ruhrgebiet.
Die Reichswehr ist gespalten: Ein Teil schließt sich Kapp an, ein Teil zögert, weil sie Kapp
nicht für voll nimmt und stellt sich später auf die Seite der Regierung. Wer nicht zögert,
sind die Proleten. Im ganzen Reich wird der Generalstreik ausgerufen und fast vollständig
befolgt. Am weitesten jedoch gehen die Kumpels an der Ruhr. Hier hat man nicht vergessen,
was ein Jahr vorher geschehen war. Die Arbeiter bewaffnen sich, stellen eine »Rote Ruhr Armee« auf und begegnen dem Putsch auf eigene Faust. Es entsteht eine regelrechte Front quer
durchs Ruhrgebiet bis ins Münsterland hinein.
Der militärische Kampf war kurz. Nach nur fünf Tagen bricht der rechte Putsch zusammen. Kapp und seine Drahtzieher fliehen. Generalstreik, Reichswehr und Rote Ruhr Armee
hatten den ersten faschistischen Spuk verjagt. Nach Meinung der Regierung war nun alles
wieder normal. Den Arbeitern wurde artig gedankt, und sie sollten doch, bitte schön, nun die
Waffen abliefern und wieder arbeiten gehen. Die aber sahen das anders. Sie hielten die Macht
in Händen – warum sollten sie diese Errungenschaft wieder aufgeben? Die Lehren des vergangenen Frühjahrs waren noch frisch, und die alten Forderungen keineswegs erfüllt; viele
sahen die Chance, den verpaßten Umsturz jetzt zu vollenden. Die Rote Ruhr Armee blieb
unter Waffen, und so wurde am 17. März die Front der Arbeiter gegen Kapp zu einer Front
der Reichswehr gegen die Arbeiter.
Achtzehn Tage dauerte der Widerstand gegen das Militär, achtzehn Tage, in denen im ›Hinterland‹ viel geschah. Schon zu Beginn des Putsches hatte man die Gefängnisse gestürmt
und »die Genossen befreit«. In jeder Stadt und Gemeinde bildeten sich sogenannte »Vollzugsausschüsse«, die sich der Organisation des täglichen Lebens annahmen. Die staatlichen
Organisationen hatten sich als unfähig erwiesen und wurden einfach ignoriert. Besonders
im Dortmunder Raum versuchte man, mit der Selbstverwaltung ernst zu machen. In den Betrieben hielt man Wahlen ab, und alles, was der Staat seit April 1919 schrittweise abgeschafft
hatte, wurde nun wieder eingeführt. Diesmal ging man sogar noch weiter.
Die Versorgung der Bevölkerung lag nun in den Händen der Räte. Der Austausch mit den
Bauern wurde organisiert, Preise wurden festgesetzt, Transport und Verteilung geregelt. Die
wenigen erhaltenen Dokumente jener Tage zeigen, daß man sich auch mit den Niederungen des Alltags befaßte, etwa, was die Regelung von Alkoholkonsum auf Festlichkeiten, die
Schlichtung von Streit zwischen Nachbarn und Kollegen oder die Entschädigung aufgebrachter Ladenbesitzer anging, bei denen man Waren für die Armee requiriert hatte. Auch
die Empfehlung, freiwillig das Backen von Kuchen einzuschränken, weil dafür zuviel Eier
und Zucker verwendet würden, zeigt durchaus ein Gespür für die Wichtigkeit von Details.
Dabei ging es natürlich um Größeres. Die gleichen Forderungen, die schon die Resolution des Generalstreiks vom Vorjahr enthielt, kamen jetzt wieder auf den Tisch: allgemeine
Anerkennung des Rätesystems, Bildung einer revolutionären »Arbeiterwehr«, Freilassung
der politischen Gefangenen, generelle Einführung des Sechsstundentages, 25-prozentige
Lohnanhebung, Entwaffnung der Polizei im Revier und Auflösung der Freikorps. Was immer
möglich war, wurde nun versucht, umzusetzen. Aber nur knapp drei Wochen dauerte das
Machtvakuum, in dem die Syndikalisten die Geschicke einer großen Stadt, ja, einer ganzen
Region in Händen hielten. Zu wenig Zeit, um große Erfolge zu erzielen.
Achtzehn Tage nach Beginn des Aufstandes schließt das Gros der arg bedrängten Roten
Ruhr Armee mit der Reichswehr einen Friedensvertrag. Dieses »Bielefelder Abkommen«
aber wird vom Militär kaum eingehalten. Die besten Kämpfer und die fähigsten Organisatoren sterben unter den Kugeln der vorrückenden Truppe. Der Traum von Selbstverwaltung
und Rätedemokratie wird zerschlagen, die Generäle räumen auf. Im April 1920 stirbt im
Ruhrgebiet der letzte Rest der deutschen Revolution vom November 1918.
Man kann das, was sich in jenen Wochen in der deutschen Bergbaumetropole abspielte, ohne Übertreibung die ›Commune von Dortmund‹ nennen. Die Ähnlichkeit mit den
Ereignissen von Paris, Kronstadt, Buenos Aires oder Barcelona fällt geradezu ins Auge.
Niemand hat ihr je diesen Namen gegeben, aber dennoch hat sie existiert. Daß es diesen
Namen nicht gibt, daß in Deutschland diese Ereignisse so gut wie unbekannt blieben, hat
viel mit Geschichtsschreibung und Parteilichkeit zu tun. Denn die Träger dieser Bewegung
waren Anarchosyndikalisten, und die passen überhaupt nicht ins Bild gängiger deutscher
Geschichtsraster.
Sechzig Prozent der aktiven Kämpfer der Region trugen, ebenso wie zwölftausend Arbeiter allein im Raum Groß-Dortmund, ein kleines grünes Mitgliedsbuch mit dem Aufdruck
F.A.U.D. in der Tasche. Dabei hatte sich die Freie Arbeiter Union Deutschlands erst im September 1919 gegründet. Ihr Vorläufer war die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften,
ein 1897 gegründeter Oppositionsverband, der seit 1904 anarchosyndikalistische Positionen
vertrat und bei Kriegsbeginn gerade mal achttausend Mitglieder zählte. Trotz massivster
Behinderung und blutiger Verfolgung während des Krieges steht diese kleine Gruppe nach
dem Umsturz von 1918 plötzlich auf der Höhe der Zeit und stellt sich der Herausforderung.
Nicht zuletzt wegen ihrer konsequenten Haltung gegen den Krieg und ihrer klaren Vorstellungen zur Sozialisierung der Industrie laufen ihr nun diejenigen Arbeiter zu, die zwischen
sozialdemokratischer Regierung und kommunistischer Diktatur eine Alternative suchen. Im
Sommer 1919 zählt sie bereits sechzigtausend Mitglieder. Aus den Kämpfen im Ruhrgebiet
waren zahlreiche autonome Gewerkschaftsgruppen hervorgegangen; weitere sechzigtausend Arbeiter, die sich nun mit der Freien Vereinigung zur anarchosyndikalistischen FAUD
verbinden. Jetzt gibt es auch in Deutschland eine libertäre Arbeiterbewegung mit einer festen Organisation und einem konkreten Programm.
Die deutschen Anarchisten, seit über vierzig Jahren stets im Schatten der Sozialdemokratie, waren sozusagen über Nacht zu politischen ›Trendsettern‹ geworden. Im Ruhrgebiet
stellen sie sogar die dominierende Kraft. Hervorgegangen aus kleinen, illegalen Grüppchen
Gleichgesinnter entstehen im Revier innerhalb weniger Monate ganze Gewerkschaftszweige.
Allein im Dortmunder Raum sind 1921 an die zwanzigtausend ›Malocher‹ in der anarchistischen Gewerkschaft organisiert. Auch im restlichen Deutschland wächst die Anhängerschaft
der FAUD, die 1925, auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, hundertfünfzigtausend betragen wird. Andere syndikalistische Organisationen wie die Allgemeine Arbeiter Union bringen
es ebenfalls auf fast hunderttausend Mitglieder.
In diesem Umfeld gedeiht ein breites Spektrum an Presse und Literatur, und zum ersten
Male gelangt auch in Deutschland anarchistisches Gedankengut zu Massenauflagen und
einer gewissen Popularität. Die Wochenzeitung der FAUD, Der Syndikalist, erreicht trotz
zahlreicher Verbote eine Leserschaft von Hunderttausenden, und in Düsseldorf erscheint
gar eine anarchistische Tageszeitung, die den vielsagenden Titel Die Schöpfung trägt. Unter
der Regie des alten Gewerkschafters und Anarchoverlegers Fritz Kater entsteht eine Bücher-
gilde, die leichtverständliche Broschüren, anspruchsvolle Literatur und preiswerte Anarcho-
klassiker unters Volk bringt und gleichzeitig den Vertrieb zahlreicher libertärer Zeitschriften
besorgt. Diese entstehen nun in großer Zahl und widmen sich, sofern sie nicht regional oder
branchenspezifisch ausgerichtet sind, den unterschiedlichsten Zielgruppen und Themen:
Frauen, Antimilitarismus, Kinder, Kultur, Jugend, Theorie, Individualismus, Satire, Atheismus und Literatur.
Im Windschatten der FAUD gedeiht eine rege libertäre Bewegung, von der sich Teile in
einer Anarchistischen Föderation, einer Jugendorganisation, einem Frauenbund organisieren. Eine solch bunte, libertäre Alltagskultur war Deutschland bisher fremd. Vom strammen
Gewerkschafter über die Künstlerbohème bis zur Kommunesiedlung findet sich hier so
ziemlich das ganze Spektrum wieder. In Berlin gründet der anarchistische Friedensaktivist
Ernst Friedrich das erste – und bis heute einzige – Antikriegsmuseum der Welt.
Was die rein syndikalistische Bewegung angeht, so wurde sie in gewisser Weise Opfer ihres
eigenen Anfangserfolges. Seit ihrer Gründung litt sie unter dem kometenhaften Aufstieg, mit
dem sie auf die politische Bühne gestolpert war. Massen von Arbeitern waren ihr urplötzlich zugeströmt, Menschen, die gewohnt waren, daß die Gewerkschaft für sie handelt. Die
Vermittlung libertärer Eigenständigkeit, das Erlernen autonomen Handelns ist jedoch ein
langer Prozeß. In Spanien, Argentinien, Italien gab es hierzu Gelegenheit, die FAUD aber war
zu schnell gewachsen. Sie selbst beklagte stets einen gewissen »Mangel an Reife« ihrer Mitgliedschaft und tat in der Folgezeit alles, um dieses Defizit auszugleichen. Mit diesem Defizit
aber stand sie von der ersten Stunde an inmitten heftigster sozialer Kämpfe wie dem an der
Ruhr. Kämpfe, in denen sie Hervorragendes leistete, die sie aber nicht ›gewinnen‹ konnte.
Zwar gelang es der FAUD, in einigen Branchen und verschiedenen Regionen Fuß zu fassen
und solide Organisationsarbeit zu leisten, aber sie konnte sich landesweit nie als Alternative durchsetzen. In der Arbeiterschaft wurde sie zunehmend als eine Protestgewerkschaft
empfunden. Ähnliches galt für ihr konsequentes Programm sowie ihre richtungsweisenden
Standpunkte zu den politischen Fragen der Zeit: Sie wurden oft mit Beifall aufgenommen,
aber nicht befolgt. Ein so brillanter Kopf wie der FAUD-Organisator und Vordenker Rudolf
Rocker war zwar ein vielgelesener Autor und gern geladener Vortragsredner, aber in der
atemlosen Alltagspolitik dominierten längst andere Schlagworte. Es wurde wieder kürzer
gedacht, wenn überhaupt, denn zwischen zwei ›Alternativen‹, die sich glichen wie ein Ei
dem anderen, blieb nicht viel Platz zum Denken: Nazis und Stalinisten polarisierten zunehmend die Politik der Weimarer Republik, im Hintergrund eine unschlüssige SPD und
die rechtslastige bürgerliche Mitte. NSDAP und KPD bombardierten die Arbeiterschaft mit
aufpeitschenden Parolen, und beide versprachen einen starken, genialen Führer, der alles
lösen könnte. Sie verfügten über riesige Geldmittel für Organisation und Propaganda und
zögerten nicht, dem politischen Gegner mit dem Schlagring zu antworten. Da blieb für eine
kleine und finanzschwache Bewegung, die eigenständiges Denken und autonomes Handeln
zum Inhalt hatte, auf Dauer kein Platz. Im Grunde hatte der deutsche Anarchosyndikalismus
nie eine wirkliche Chance.
Dennoch hat die FAUD ihre Rolle mit Bravour gespielt. Die ständigen Verbote ihrer Zei-
tung belegen, wie oft ihre Kritik den Nerv der Zeit traf. Mit einer Klarheit, die damals beim
Durchschnittsbürger nur Kopfschütteln erregte, wies sie darauf hin, daß Denkstruktur und
Handlungsmuster von Faschismus und Stalinismus identisch seien und sich nur durch ihre
ideologische Tünche voneinander unterschieden. Es ist schon fast von symbolhafter Ironie,
daß die Veröffentlichung von Rudolf Rockers tiefgründigem Werk über den Gegensatz von
Nationalismus und Kultur ausgerechnet durch die Machtübernahme der Nazis verhindert
wurde. Es erschien erst 1949 unter dem Titel »Die Entscheidung des Abendlandes«. Da wurde
es zwar von Albert Einstein, Thomas Mann und Bertrand Russell sehr gelobt, aber die Zeit, in
der es unter den Menschen etwas hätte bewirken können, war längst vorbei.
Als 1933 die FAUD zusammen mit allen anderen linken Organisationen zerschlagen
wurde, gaben jedoch nicht alle Syndikalisten den Kampf gegen Hitler auf. Der Widerstand
in Deutschland, der hauptsächlich von Exilierten aus den Niederlanden unterstützt wurde,
kostete vielen Libertären Freiheit und Leben. Viele von denen, die damals ins Ausland fliehen konnten, finden wir 1936 in Spanien wieder, wo sie eine eigene Kampfgruppe deutscher
Anarchosyndikalisten gegen den Faschismus aufstellten. Ihre Zeitung Die Soziale Revolution
legt Zeugnis ab von der letzten Bastion einer libertären Gewerkschaft, die bei der Geburt der
ersten deutschen Republik ein Hoffnungsträger für große Teile der deutschen Arbeiterschaft
war, und die mit dieser Republik unterging.
Der verhängnisvolle Fehlstart der FAUD hat natürlich auch damit zu tun, daß es vor 1918
in Deutschland keine wirklich lebendige anarchistische Bewegung gab, und libertäre Ideen
nicht annähernd so verbreitet waren wie etwa in Spanien, Frankreich oder Italien. Hierfür
gibt es eine Reihe von Gründen, und die weisen stets auf die merkwürdigen Ursprünge des
deutschen Anarchismus.
Alle Wurzeln libertären Denkens in Deutschland führen ins Ausland. Es handelte sich
durchweg um Importware, die in gedruckter Form über die Grenzen kam, und wenn man
einmal von Foignys »Südlandreise« absieht, die 1704 in deutscher Übersetzung erschien und
weitgehend folgenlos blieb, so eröffnete Proudhon den Reigen libertärer Denker, deren Ideen
in Deutschland ein gewisses Echo fanden. 1844 erschien in Bern die erste deutsche Übersetzung seiner Schrift über das Eigentum, 1865 lagen von ihm bereits 20 Bände in deutscher
Sprache vor und wirkten still vor sich hin. Dies geschah in erster Linie geistesgeschichtlich
das heißt, in Kreisen sogenannter gebildeter Leute, die mehr oder weniger philosophisch,
ökonomisch oder klassenkämpferisch interessiert waren. Daß hieraus keine anarchistische
Bewegung entstand, hat, abgesehen von dem Mißtrauen, mit dem fremdländische Gedanken
in Deutschland traditionell zu kämpfen haben, im wesentlichen zwei Ursachen.
Die erste ist in jener besonderen Form des ideologischen Papsttums zu suchen, mit dem
Marx und Engels von Anfang an die Herausbildung des Sozialismus überzogen. Gerade in
Deutschland dominierten sie aus ihren starken Schlüsselpositionen heraus die Debatte und
jede weitere Entwicklung. So gingen sie in scharfer Polemik gegen abweichende Meinungen
vor und versuchten nacheinander Feuerbach, Bauer, Stirner, Proudhon, Bakunin, Weitung,
Grün, Heß und Dühring »abzumurksen«, wie Engels sich ausdrückte. Auf diese Weise mangelte es der sozialistischen Bewegung von vornherein an Vielfalt; Gegenpositionen gelangten
gar nicht erst unter die Leute.
Die zweite Ursache ist mit der ersten eng verwandt, sie liefert in gewisser Weise sogar die
Erklärung für das ›Phänomen Marx/Engels‹ und ihre staatstriefende Vision vom Sozialismus. Die Deutschen sind das Produkt einer allgegenwärtigen staatlichen Erziehung und
Durchdringung. Relativ spät zur Nation geworden, wurde ihnen nichts mehr ans Herz gelegt,
als zu nationalem Ruhm und vaterländischer Größe zu streben. Fast einhundert Jahre lang
wurde die Energie eines ganzen Volkes auf wirtschaftliche Macht, Ausdehnung, Militär und
Kolonien vergeudet. Deutschland war der klassische »Obrigkeitsstaat«. Die entsprechenden
Tugenden waren jedem ›guten Deutschen‹ so in die Wiege gelegt, daß er sich nichts Würdiges, Diszipliniertes und Funktionierendes ohne Gehorsam und Staat vorstellen konnte.
Das hat auch auf die deutschen Sozialisten abgefärbt. Nichts hat sie je so hart getroffen wie
Bismarcks Vorwurf, sie seien »vaterlandslose Gesellen«. Nicht zufällig war daher die sozialistische Bewegung in Deutschland immer in erster Linie eine autoritäre. Die staatstragende
deutsche Sozialdemokratie, erst marxistisch, dann revisionistisch, dann opportunistisch,
war und ist bis heute weltweit das leuchtende Vorbild aller Durchschnittssozialisten.
Das war kein guter Acker für die Anarchie, und so dauerte es lange, bis das importierte
Saatgut aufging und libertäre Keime trieb. Ab 1874 werden erste anarchistische Gruppen
bekannt, vornehmlich in den größeren Städten. Es handelt sich durchweg um sozialistische
Arbeiter, für die die anarchistischen Ideen einfach die ehrlichere Form des Sozialismus
sind. Sie werden immer wieder polizeilich verfolgt und haben es schwer genug, ihre bloße
Existenz als Gruppe zu behaupten. Ein französischer Anarchist, Victor Dave, leistet dabei
wichtige organisatorische Hilfestellung. Ab 1876 erscheint in Bern die vom unermüdlichen
Paul Brousse vierzehntägig herausgegebene »Arbeiterzeitung«, die auch in Deutschland und
Österreich verbreitet wird. Sie steht unter starkem Einfluß der italienischen Föderation, die
den kommunistischen Anarchismus und den revolutionären Aufstand predigt.
1878 dienen die Attentatsversuche der Nicht-Anarchisten Hödel und Nobiling auf den
Kaiser zum Vorwand für das »Sozialistengesetz«, das die gesamte Linksopposition verbietet.
Während der Illegalität hängen die versprengten deutschen Anarchisten erneut am Tropf
des Auslandes: Die seit 1879 von Johann Most in London herausgegebene Freiheit, eigentlich ein sozialdemokratisches Blatt, wird zur populärsten sozialistischen Zeitung deutscher
Sprache und wendet sich zunehmend anarchistischen Positionen zu. Zum Entsetzen der
nach Zürich emigrierten Parteileitung schwingt sich das respektlose Blatt aus der miesen
Stimmung, die die Parteibasis in Deutschland befallen hatte, zu ungeahnter Popularität auf.
Schon damals muckte das Fußvolk vernehmlich gegen den Anpassungskurs der SPD und
ließ sich in gepfefferten Tiraden über Selbstherrlichkeit, Vetternwirtschaft und Professorendünkel der Parteibeamten aus. Die legendäre Freiheit wurde auf extradünnem Papier
gedruckt und auf abenteuerlichen Wegen nach Deutschland geschmuggelt. In Österreich, wo
die preußischen Gesetze nicht galten, konnte das Blatt relativ offen vertrieben werden. Hier
war es Anarchisten unter dem Einfluß von Josef Peukert gelungen, in einigen sozialdemokratischen Hochburgen Fuß zu fassen.
1881 nehmen deutsche Vertreter am anarchistischen Kongreß in London teil, dessen
Absegnung der »Propaganda der Tat« auch unter den marginalisierten deutschen Anarchisten ihr Echo findet. 1883 plant eine Gruppe um August Reinsdorf, bei der Einweihung
des vaterländischen Niederwald-Denkmals den Kaiser mitsamt den dort versammelten
deutschen Fürsten und Bischöfen in die Luft zu sprengen. Das Attentat mißlingt, Reinsdorf
wird 1885 zusammen mit seinem Gesinnungsgenossen Küchler in Leipzig enthauptet. Im
gleichen Jahr ersticht Julius Lieske aus Rache den Polizeikommissar Rumpf, der sich bei fast
allen Anarchistenverfolgungen besonders hervorgetan hatte. Als 1885 auch Lieske in Kassel
hingerichtet wird, geht die kurze Phase des individuellen Terrors im deutschen Anarchismus
zu Ende.
Von einer anarchistischen Bewegung im eigentlichen Sinne aber kann noch immer keine
Rede sein. Dennoch hat es in Deutschland schon vorher eine mächtige Strömung gegeben,
die an-archisch war, ohne es zu ahnen. Sie steht in ihrer ganzen Widersinnigkeit für die
verfahrene politische Situation, in der sich die Spätgeburt des deutschen Anarchismus
abspielte.
Der populärste Mann, den die Sozialdemokratische Partei jemals an der Basis der Arbeiterschaft hatte, hieß Johann Most. Mit fünfundzwanzig Jahren saß er als einer der jüngsten
Parlamentarier Deutschlands im Reichstag, den er aber überhaupt nicht ernst nahm. Das
»Reichskasperletheater«, wie er es despektierlich* taufte, diente ihm lediglich als Plattform,
um den Parlamentarismus in einer Weise lächerlich zu machen, die wir heute »Spaßguerilla« nennen würden. Nicht zuletzt deswegen war er bei den sozialdemokratischen Arbeitern
überaus beliebt. Die wählten ihn – sehr zum Verdruß der Parteifürsten – immer wieder und
rissen sich in verschiedenen Städten geradezu um seine Kandidatur. Seinen letzten Wahlkampf bestritt er aus einer Gefängniszelle in Plötzensee und schlug seinen bürgerlichen
Gegenkandidaten im fernen Chemnitz mit vierzehntausend zu zehntausend Stimmen – und
das, obwohl dieser das Gerücht ausgestreut hatte, Most habe sich im Gefängnis erhängt,
und jeder, der ihn nicht wähle, erhalte zum Dank »Dünnbier, saure Gurken und Speck«.
Der gelernte Buchbinder brachte aber nicht nur glänzende Wahlergebnisse ein, er war auch
anerkannter Spezialist für Mobilisation. Wo immer er auftauchte, sorgte er für überfüllte
Vortragssäle, hochschnellende Zeitungsauflagen, steigende Mitgliedszahlen und die tollsten
Demonstrationen, die das Kaiserreich je erlebte. Wenn Most zum Aufmarsch rief, gab es
keine öden Trauermärsche, sondern provokante Happenings, kunstvoll inszeniert, mit peinlichen Fallen für Gendarmen und Bürger. Berüchtigt war die ironische Schärfe und die an-
schauliche, einfache Sprache, die er in seinen Reden und Schriften pflegte. Als Redakteur der
Chemnitzer Freien Presse, der Berliner Freien Presse und der Süddeutschen Volksstimme war
er ein ebenso populärer Verbreiter subversiver Ideen wie als Verfasser kleiner Agitationsbroschüren, die so provozierende Titel trugen wie »Die Gottespest« oder »Die Eigentumsbestie«.
Sie erreichten Massenauflagen, geradeso wie das im Gefängnis verfaßte Büchlein »Kapital
und Arbeit«, in dem der ehemalige Handwerksgeselle den Inhalt von Marxens unverdaulichem Werk »Das Kapital« in die Sprache der einfachen Leute übertrug.
All das geschah in den siebziger Jahren, vor dem Sozialistengesetz. Most war damals kein
Anarchist, sondern Sozialdemokrat. Er war es genau deshalb, weil es in Deutschland fast
überall Sozialdemokraten gab und so gut wie keine Anarchisten. Von seinem Temperament
jedoch, ebenso wie von seinen Ansichten und seinem rebellischen Lebenslauf her scheint er
der geborene Anarcho gewesen zu sein. Aber weder ahnte er, daß dieses passende Wort für
seine Einstellung existierte, noch, daß es eine dazugehörige Bewegung gab. Über dreißig Jahre sollte es dauern, bis er diese Entdeckung machte. In seinen Memoiren erinnert er sich, daß
er zwar schon 1867 im Schweizer Jura »bakunistische Arbeiter« kennenlernte, aber auch die
nannten sich damals noch schlicht »Sozialisten«. Deren Ansichten allerdings gaben seinem
Sozialismus die entscheidende Prägung. ›Anarchisten‹ aber, so schreibt er, habe er damals
weder in Österreich noch in Deutschland jemals getroffen. Das wirft ein bezeichnendes Licht
auf den desolaten Zustand der vereinzelten libertären Grüppchen und darauf, wie fest die
Sozialdemokratie den politischen Zeitgeist im Griff hatte.
Interessant an dieser ganzen Geschichte ist aber nicht sosehr das Schicksal eines verirrten
linksradikalen Agitationstalentes, sondern das enorme Echo, das ausgerechnet einer wie
Most in der Sozialdemokratie fand. Wenn ein begabter Agitator wie ein Anarcho auftritt und
damit zum populärsten Sozi wird, wenn jemand mit antiparlamentarischer Veralberung
parlamentarische Triumphe erzielt, wenn sich Arbeiter für Aktionen begeistern, die so gar
nicht ins Konzept der seriösen Arbeiterpartei passen, dann kann einiges von dem, was zu
offiziellen Wahrheiten der Sozialgeschichte geworden ist, nicht recht stimmen. Zum Beispiel,
daß der deutsche Arbeiter stets bieder und moderat gewesen sei, Ruhe und Ordnung liebend
und für Revolutionen nicht zu haben. Mosts sagenhafte Popularität läßt da andere Schlüsse
zu. Wenn unterm Strich am Ende der angepaßte Arbeitnehmer herausgekommen ist den
wir alle kennen, dann ist die Sozialdemokratie für diesen Saldo verantwortlich. Sie hat sich
systematisch genau die Arbeiterschaft herangezüchtet, die sie brauchte: Wählerpotential.
Daß die deutschen Proletarier 1914 lammfromm in den Krieg marschierten oder 1935 nicht
gegen Hitler aufstanden, hat die »Führerin der Arbeiterklasse« nicht nur zu vertreten, sie hat
es so gewollt.
Das, was Johann Most unter ›Sozialismus‹ verstand, war zu seiner Zeit in der SPD so normal wie nur irgendetwas. So wie er fühlte, sprach und handelte, so dachten damals Millionen
sozialdemokratischer Arbeiter. Bis zum Sozialistengesetz war dies, bringt man die Manipulationen der Parteileitung in Anrechnung, vielleicht sogar die Mehrheitsmeinung in der SPD.
Für die Partei aber war das Sozialistengesetz eine willkommene Gelegenheit, sich ihres lästigen linken Flügels zu entledigen. Nach Aufhebung des Verbots war die SPD geläutert und
reif für eine staatstragende Rolle.
Als Johann Most sich um 1880 definitiv zum Anarchisten wandelte, lebte er bereits im
Exil und hatte kaum noch direkten Einfluß auf die deutsche Arbeiterbewegung. Als sich die
Anarchisten schließlich zu einem Standpunkt bequemten, der für Most und seine Anhänger von 1875 attraktiv gewesen wäre, war dieser bereits tot – ebenso wie die kämpferische
deutsche Arbeiterschaft, in der er sich einst bewegte. So wurde er als Sozialist zu spät und
als Anarchist zu früh geboren. Wäre der Anarchismus in Deutschland etwas zeitiger aus den
Startlöchern gekommen, hätte jemand wie Most ihm womöglich die Popularität verschaffen
können, die stets so bitter fehlte. An Sympathien in der Arbeiterschaft hätte es jedenfalls
nicht gemangelt.
Als 1890 das Sozialistengesetz fiel, feierte die SPD ihre Auferstehung, hinreichend angepaßt
zur sozialreformerischen Stimmviehpartei. Zwar war sie auch jetzt noch nicht von innerer
Opposition befreit, denn eine neue politische Generation war herangewachsen, die mit Kritik nicht sparte. Aber diesmal war es eine Minderheit, mit der man kurzen Prozeß machen
konnte. Auf dem Kongreß von Erfurt wird praktisch die gesamte linke Opposition aus der
Partei entfernt. Diese Gruppe, im Parteijargon bezeichnenderweise »Die Jungen« genannt,
zieht es jedoch vor, sich zu organisieren: 1891 gründen sie den »Verein unabhängiger Sozialisten«. Aus dieser Dissidentenbewegung der »Jungen« regeneriert sich der deutsche
Anarchismus zu seinem zweiten Anlauf, aus dem in der Weimarer Republik dann seine erste
Blüte hervorging. Rudolf Rocker hat hier seine politischen Wurzeln, und er gehört 1897 zu
den Gründungsmitgliedern der »Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften«, dem Vorläufer der FAUD. Seine Person steht für eine Fortführung der klassischen anarchistischen
Position, die eng mit der Arbeiterschaft verbunden bleibt und deren Faden uns direkt zu den
Dortmunder Ereignissen von 1919 führt. In diesem Umfeld entstehen noch vor der Jahrhundertwende die ersten größeren libertären Zeitungen Deutschlands, die nicht vom Ausland
abhängen: Die Einheit, Neues Leben, Der Freie Arbeiter. Ansonsten war man überwiegend
auf die Mostsche Freiheit angewiesen, die nun aus den USA kam, viel gelesen wurde und bis
1910 erschien. Mit einer Ausnahme, der allerdings wenig Beachtung geschenkt wurde:
Die jungen SPD-Dissidenten hatten bereits 1891, unmittelbar nach ihrem Bruch mit der
Partei, ein unscheinbares Blatt namens Der Sozialist gegründet, dessen Schriftleitung wenig
später ein zweiundzwanzigjähriger Anarchist übernimmt: Gustav Landauer.
Der ehemalige Philosophie- und Germanistikstudent profiliert sich als brillanter Autor
und macht die kleine Zeitung zu einer vielbeachteten Tribüne sozialistischer Diskussion
und anarchistischer Erneuerung. Dabei geht er einen anderen Weg als Rocker. Landauer
ist nicht der populäre Massenorganisator, sondern der sensible Denker. Ihm liegt die Gemeinschaft geistig gefestigter, selbständig handelnder Individuen näher als die kollektive
Anonymität der Gewerkschaften. Ausgehend vom Versagen der Sozialdemokratie entwickelt
er in den nächsten zwanzig Jahren ein eigenständiges anarchistisches Gedankengebäude,
das die Grenzen der Arbeiterbewegung erkennt, die Gefahren ideologischer Vereinnahmung
benennt und eine strenge Trennungslinie zwischen Gesellschaft und Staat zieht. Seine Kritik
richtet sich gegen das geistlose wilhelminische Deutschland ebenso wie gegen dessen Sozialdemokraten, spart aber auch die Anarchisten nicht aus. Landauer entwickelt einen ethischen
Sozialismus, an dessen Beginn das »Ich« stehen müsse, das erst »durch Absonderung zur
Gemeinschaft finden« könne. Solidarisches Handeln setze eine kritische Selbstreflexion
voraus, erst dann könne ein kommunitäres Miteinander angegangen werden, wobei auch
kleine Veränderungen im Lebensbereich des Einzelnen ihre Wichtigkeit hätten. Einfacher
ausgedrückt bedeutet das, daß Menschen, die sich selbst nicht ändern, auch keine ›Revolution machen‹ können, und daß diese Veränderung sofort beginnen kann und muß. Es scheint
fast so, als hätte Landauer die ›Reifeprobleme‹, die die FAUD in den zwanziger Jahren beklagen wird, genau vorausgesehen.
Landauer ist nicht nur derjenige, der aus der Schwäche des zeitgenössischen Anarchismus
die weitreichendsten Konsequenzen zog, indem er ihre tieferen Ursachen analysierte; er ist
wohl auch der tiefgreifendste anarchistische Philosoph, den Deutschland je hervorgebracht
hat. Die Bandbreite seines Schaffens geht weit über das bei Anarchisten übliche Maß hinaus.
Neben sachlich gehaltenen programmatischen Schriften wie »Ein Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse«, »Die Revolution« oder »Aufruf zum Sozialismus« widmet sich Landauer auch
der Belletristik, der Literaturwissenschaft und einem kritischen Mystizismus. Die Wege der
Erkenntnis und Mittel der Verbreitung sind bei ihm vielfältig: er schreibt Romane, übersetzt
Shakespeare, beschäftigt sich mit jüdischer und mittelalterlicher Mystik, Erkenntnistheorie
und Sprachkritik. Dennoch wird er nicht zum abgehobenen Schöngeist, sondern bleibt in
erster Linie Praktiker, der etwas verändern will. Seinen ›projektanarchistischen‹ Beitrag,
den Sozialistischen Bund, haben wir bereits vorgestellt; in einem zweiten praktischen Experiment, dem sich der sanfte Anarchist mit aller Konsequenz verschrieb, sollte er einen
tragischen Tod finden.
Die Novemberrevolution stürzte in Bayern die Dynastie des Hauses Wittelsbach und machte
das Königreich zum Freistaat. Zum Ministerpräsidenten wurde der Vorsitzende des Arbeiter- und Soldatenrates, Kurt Eisner, gewählt – ein aufrechter Sozialist, Kriegsgegner und
Mitglied der USPD. Eisner stand libertären Ideen mit Sympathie gegenüber und war mit
einigen bekannten Anarchisten befreundet. Sein politisches Programm sah ein behutsames
Übergangsmodell aus Rätedemokratie und Parlament vor, das vor allem dem starken politischen Gefälle zwischen den großen Städten und dem flachen Land Rechnung tragen sollte.
Er mißtraute dem plötzlichen Stimmungsumschwung und der vergänglichen Euphorie
›revolutionärer Massen‹. So versuchte er alles, um im Freistaat eine sozialistische Entwicklung in Gang zu setzen, die auf möglichst breiter Basis stehen sollte. Zu diesem Aufbauwerk
gelang es Eisner, einige bekannte Libertäre zu gewinnen, so den Alternativökonomen Silvio
Gesell und Gustav Landauer. Die recht aktive Szene der Münchner Anarchisten und Linkssozialisten hatte ohnehin aktiv am Umsturz teilgenommen und war bereits in den diversen
Räten und Ausschüssen vertreten. Zu ihnen zählten neben Erich Mühsam auch der später
unter dem Pseudonym B. Traven berühmt gewordene Schriftsteller Ret Marut sowie der
Dramatiker Ernst Toller.
Landauer, der von dem unblutigen Verlauf der Revolution in München begeistert war,
stellte sich voller Elan seiner neuen Aufgabe, die Eisner etwas blumig als »rednerische Betätigung an der Umbildung der Seelen« umschrieb. Den Umsturz in Süddeutschland hielt
Landauer für tiefgreifender als anderswo und sah gute Chancen zu einer Umgestaltung im
libertären Sinne. Schon 1911 hatte er in seinem Pamphlet »Abschaffung des Krieges durch
die Selbstbestimmung des Volkes« geschrieben: »Weder Regierungen noch Partei-Bürokraten
sollten für das Volk sprechen und denken. Die wahren Schlachten der Völker werden im
Unsichtbaren geschlagen; nicht Haß und Gewalt schlagen sie, sondern Liebe und Arbeit.«
Dies umzusetzen schien ihm nun möglich, und er nutzte die wenigen Monate, die dem
revolutionären Freistaat vergönnt waren, zu emsiger Tätigkeit. Sein Hauptaugenmerk war
dabei auf die Stärkung einer demokratischen Rätekultur gerichtet, die eine direkte Beteiligung möglichst vieler Menschen gewährleisten sollte. Seinem Wirkungskreis entsprechend
knüpfte Landauer hierbei die Kontakte, die ihn dann in der Räterepublik zur Übernahme
des Kulturressorts prädestinierten*.
Vor allem mußte die junge Bewegung versuchen, ihre soziale Basis zu erweitern. Die war
außerhalb Münchens, Ingolstadts, Nürnbergs und Augsburgs sehr schwach. Selbst in der
Hauptstadt konnte sie sich neben einigen bekannten Intellektuellen nur auf die radikalisierten Soldaten und die Arbeiterschaft stützen – und selbst die war gespalten. Die SPD des
rechten Flügels trat zwar der Regierung bei, aber nur, um von dieser Position aus jede revolutionäre Veränderung zu hintertreiben. Wie überall im Reich agitierte sie in den Fabriken
gegen die Räte und torpedierte alle Initiativen der Regierung Eisner, der sie selbst angehörte.
Die Unternehmerschaft polemisierte gegen Sozialisierungsvorhaben, rechte Professoren und
national gesinnte Studenten widersetzten sich der Hochschulreform, die bürgerliche Presse rief zum Widerstand. Die Reaktion begann sich zu sammeln und bereitete sich darauf
vor, die Ereignisse zurückzudrehen. Im Hintergrund drehte die SPD fleißig mit. Es gärte.
Stimmen wurden laut, die Revolution endlich zu vollenden und den Freistaat in eine echte
Räterepublik zu verwandeln; andere plädierten dafür, die Ziele der Bewegung besser zu
vermitteln und verstärkt für sie zu werben. Das ging aber kaum in wenigen Wochen, denn
für den 12. Januar waren allgemeine Wahlen angesetzt. Erwartungsgemäß siegten SPD und
Bürgerliche im bayerischen Landesdurchschnitt mit klarer Mehrheit.
Am 21. Februar wird Kurt Eisner auf dem Weg in den Landtag, wo er seinen Rücktritt
bekanntgeben wollte, von einem rechtsnationalen Offizier ermordet. Es kommt zu Tumulten, das Parlament löst sich auf, ein provisorischer Zentralrat wird gebildet. Die Frage, die
sich den revolutionären Kräften nun stellt, heißt: aufgeben oder durchstarten? In München
scheint die Selbstverwaltung nach wie vor populär – in Bayern aber, das weiß man nun, sind
ihre Anhänger hoffnungslos in der Minderheit. Die Räte stellen diese Frage auf einer öffentlichen Massenversammlung zur Entscheidung. Die Proklamation einer Räterepublik wird
beschlossen, und zwar als »notwendige Bedingung zur Weiterführung der Revolution«.
Nach zähen Verhandlungen zwischen SPD, USPD, Bauernbund, der Armee, den revolutionären Körperschaften und der neugegründeten KPD um die künftige Struktur wird am 7. April die Räterepublik ausgerufen. Im Proklamationsmanifest, mit dessen Formulierung
Landauer und Mühsam beauftragt wurden, heißt es unter anderem: »Baiern ist Räterepublik. Das werktätige Volk ist Herr seines Geschickes. Die revolutionäre Arbeiterschaft und
Bauernschaft Baierns, durch keine Parteigegensätze mehr getrennt, sind sich einig, daß von
nun an jegliche Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende haben muß.« Angestrebt werde
»die Verwirklichung eines wahrhaft sozialistischen Gemeinwesens, in dem jeder arbeitende
Mensch sich am öffentlichen Leben beteiligen soll«.
Das »Ende jeglicher Unterdrückung« jedoch blieb ein frommer Wunsch. In Bamberg hatte
sich bereits eine konservative Gegenregierung gebildet, die auf Eberts Unterstützung rechnen konnte. Der allzeit bereite Noske drängte auf die ›Befreiung‹ Münchens. Die Bayerische
Republik und das Reich lösten ihre diplomatischen Beziehungen.
Die wenigen Wochen, die dem Experiment noch blieben, zeugen von atemloser Betriebsamkeit – alles, was bisher versäumt wurde, sollte nun angepackt werden: Die ausländischen
Kriegsgefangenen wurden befreit, die Banken besetzt, Presse und Bergbau sozialisiert, die
Lebensmittelverteilung kontrolliert, die Polizei entwaffnet und eine Verteidigungsarmee
aufgestellt. Man beschlagnahmte die zahlreichen Spekulationsgrundstücke zum Zwecke
des Wohnungsbaus und quartierte kinderreiche Arbeiterfamilien in Industriellenvillen ein.
Sogar ein »Revolutionstribunal« wurde eingerichtet. Die meisten vor ihm verhandelten Fälle
endeten übrigens mit Freispruch, das härteste Urteil lautete auf zwei Jahre Gefängnis.
Silvio Gesell war nun »Volksbeauftragter für Finanzen« geworden und begann eine
Wirtschaftsreform auf der Basis des Freigeldes. Das Bankgeheimnis wurde aufgehoben,
Abhebungen eingeschränkt und Bestimmungen zur Sozialisierung der Geldinstitute erarbeitet. Gustav Landauer übernahm als »Volksbeauftragter für Volksaufklärung« die Arbeit
des ehemaligen Kultusministeriums. Im Schulwesen, im Theater, an den Hochschulen, in
der bildenden Kunst, den Bibliotheken und der Architektur brachte er Projekte auf den Weg,
die nicht einfach vom Ministerium angeordnet, sondern von den Selbstverwaltungskörperschaften gestaltet werden sollten. Er wurde damit vermutlich zum Vater der ersten bayerischen Behörde mit dezentralem Arbeitsstil.
All das hört sich gewiß gut an, aber dieses sympathische Experiment stand wie auf einer
schmelzenden Eisscholle. Die Wahlen hatten gezeigt, daß man dem Willen der schweigenden
Mehrheit zuwiderhandelte. Deshalb hofften die Revolutionäre, durch das praktische Beispiel
zu überzeugen. Aber selbst unter ihnen herrschte Uneinigkeit. Der KPD war diese »Scheinräterepublik« nicht proletarisch genug, und sie verweigerte die Mitarbeit – vermutlich, weil
ihre Partei nicht die Führungsrolle spielte. Das änderte sich, als am 13. April ein blutiger
Putsch der Bamberger Gegenregierung niedergeschlagen wird. Nun übernimmt die KPD die
Macht, und unter Eugen Leviné als Zentralratsvorsitzendem beginnt die zweite und letzte
Phase der Räterepublik. Ihre Losung lautet »Diktatur des Proletariats«, ihre Aktivitäten erschöpfen sich in einem Generalstreik, der Entwaffnung des Bürgertums und dem Versuch,
die militärische Verteidigung zu organisieren. Aber die fünfzehntausend Münchner »Rotarmisten« hatten gegen die fünfundvierzigtausend Reichswehr- und Freikorpssoldaten keine
Chance. Am 3. Mai fällt die Landeshauptstadt. Mit der Räterepublik sterben fast tausend
ihrer Anhänger. Unter ihnen befindet sich auch Gustav Landauer. Er endet am 2. Mai 1919
im Hof des Gefängnisses Stadelheim unter den Fußtritten und Kolbenschlägen der siegestrunkenen Soldateska.
Mit derselben Amnestie, die den vorbestraften österreichischen Putschisten Adolf Hitler in
Freiheit setzte, wurde 1924 auch Erich Mühsam aus der Festungshaft entlassen. Genau zehn
Jahre später war Hitler Reichskanzler und Mühsam eine Leiche in einem »Konzentrationslager«. Ein neues Wort, das die Welt noch zu lernen hatte.
Nach der Niederschlagung der Räterepublik war Mühsam zu einer Freiheitsstrafe von
fünfzehn Jahren verurteilt worden. In den wenigen Jahren, die er noch zu leben hatte, wurde
dieser rothaarige Wuschelkopf zum bekanntesten und beliebtesten Anarchisten der Weimarer Republik. Zu seiner Popularität trugen neben der Standhaftigkeit, mit der er zu seiner
Überzeugung stand, vor allem seine einprägsamen Couplets, Gedichte und Gassenhauer bei.
Der vielseitige Apothekersohn, den man getrost als Bohèmien, Revolutionär, Organisator,
Verleger, Redakteur, Theoretiker, Zeichner, Komponist, Satiriker oder Agitationsredner bezeichnen durfte, war nämlich vor allem anderen Dichter.
1903 kommt der anarchisierend umherschweifende Mühsam in Berlin mit Gustav Landauer zusammen, der den Kaffeehaussozialisten zum überzeugten Anarchisten macht. Zuvor
hatte er die Wochenschrift Der arme Teufel herausgegeben, nun schreibt er mit zunehmend
spitzer Feder und satirischem Zungenschlag in größeren Publikumszeitschriften: Welt am
Montag, Gesellschaft, Jugend und dem Simplicissimus. Als er sich vor dem Ersten Weltkrieg
für Landauers »Sozialistischen Bund« engagiert, hat er sich bereits einen Namen gemacht,
ohne sich jedoch wie ein arrivierter Schriftsteller zu gebärden. Seine bescheidenen Honorare
fließen in eine Zeitschrift von beachtlichem Niveau: den 1911 gegründeten Kain, avantgardistische Tribüne für Kultur und Politik mit dem bezeichnenden Untertitel »Zeitschrift für
Menschlichkeit«. Unter dem Eindruck des Weltkrieges stellt er das Blatt ein, nur, um es im
November 1918 sofort wieder aufleben zu lassen, als ihn die Revolution aus dem Gefängnis
befreite. Dort saß der inzwischen zu konsequenter Antikriegsaktion tendierende Mühsam
ein, weil er im Frühjahr einen Streik der Munitionsarbeiter unterstützt hatte. Der Kain, nunmehr im Großformat und mit hoher Auflage, begleitete Mühsams kurze aber prägende Rolle
während der Räterepublik und vermittelte den Standpunkt der beteiligten Anarchisten.
Nach der Haftentlassung im Jahre 1924 läßt sich Mühsam in Berlin nieder und engagiert
sich als Redner der »Roten Hilfe« für das Los der politischen Gefangenen. Als Folge seiner
Isolation in der Festung Landsberg findet er sich zunächst nur schwer in der veränderten
politischen Welt zurecht. Länger als andere Anarchisten liebäugelt er mit Rußland und der
KPD. 1926 kehrt er, politisch wie publizistisch, zu seinen Wurzeln zurück und gründet die
Monatsschrift Fanal. Sie knüpft an die Tradition des Kain an, wird aber zunehmend zum
Sprachrohr gegen den anwachsenden Faschismus. Mühsam, der vor allem bei der libertären
Jugend Anklang findet, sieht zunehmend den Untergang von Kultur und Freiheit – und damit seinen eigenen – voraus. Neben seinem literarischen Schaffen dominiert fortan die poli-
tische Analyse: Reflexionen, Appelle, Aufrufe, zunehmend warnender und verzweifelter, aber
auch nie ohne Biß und Ironie. Bis zuletzt hoffte Mühsam auf eine Einheitsfront im Kampf
gegen den geistlosen und gefühllosen Faschismus, der in Deutschland unter dem bigotten*
Etikett »Nationalsozialismus« auftrat.
Als die Nazis 1933 den Weimarer Staat aus den Händen seiner Repräsentanten übernehmen, gehört Erich Mühsam zu denen, die mit der ersten Verhaftungswelle die neu eingerichteten Konzentrationslager füllen. Vollbärtiger, linksradikaler Jude, Intellektueller und
Brillenträger, Münchner »Novemberverbrecher« – Mühsam ist die lebende Karikatur aller
Feindbilder von SA und SS. Man schlägt, tritt, bespuckt und verhöhnt ihn, bricht ihm die
Daumen, zertritt seine Brille. In der Nacht zum 10. Juli 1934 zerren ihn die Wachleute von
seiner Pritsche, fesseln ihn und hängen ihn an einem Balken der Latrine des Konzentrationslagers Oranienburg auf.
Literatur: Ulrich Linse: Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich Berlin 1969, Duncker & Humboldt, 410 S. / Horst Karasek: Belagerungszustand! Reformisten und Radikale unter dem Sozialistengesetz Berlin 1978, Wagenbach, 158 S., ill./ ders.; Propaganda und Tat Frankfurt/M. o.J., Freie Gesellschaft, 148 S. /Johann Most: Schriften (3 Bde., hrsg. v. Volker Szmula) Grafe- nau 1988-92, Trotzdem, 761 S. / Rudolf Rocker: Johann Most: Das Leben eines Rebellen Berlin 1984, P38, 508 S. / ders.; Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten Frankfurt/M. 1974, Suhrkamp, 401 S. / ders.: Die Entscheidung des Abendlandes (2 Bde.) Hamburg 1949, Hammonia, 749 S. / Peter Wienand: Rudolf Rocker – Der ‚geborene‘ Rebell Berlin 1981, Karin Kramer, 471 S. / Horst Stowasser: November 1918 Wetzlar 1979, An-Archia, 71 S., ill. / ders.: Sechs Stunden Arbeit (29 S., zu ›Dortmund‹) in; Leben ohne Chef und Staat, vgl. Kap. 50! / ders.: Der Plüschsessel (23 S., zu Most), ebda. / Hans M. Bock: Geschichte des ‚Linken Radikalis- mus‘ in Deutschland Frankfurt/M. 1976, Suhrkamp, 370 S. / Angela Vogel: Der deutsche Anarchosyndikalismus Berlin 1977, Karin Kramer, 312 S. / Hartmut Rübner: Freiheit und Brot – die FAUD Berlin 1994, Libertad, 317 S. / Ulrich Klemm, Dieter Nelles: Es lebt noch eine Flamme Grafenau 1986, Trotzdem, 368 S. / Ernst Friedrich: Vom Friedensmuseum zur Hitlerkaserne Berlin 1978, Libertad, 237 S., ill./ ders.: Krieg dem Kriege! Frankfurt/M. 1980, Zweitausendeins, 252 S., ill. / Arno Maierbrugger: Die Presse der [dt.] Anarchisten 1890 – 1933 Grafenau 1991, Trotzdem, 214 S., ill. / Gustav Landauer: Auch die Vergangenheit ist Zukunft (Essays, hrsg. v. Siegbert Wolf) Frankfurt/M. 1989, Luchterhand, 301 S. / Ulrich Linse: Gustav Landauer und die Revolutionszeit Berlin 1974, Karin Kramer, 298 S. / Günter Hillmann (Hrsg.): Die Rätebewegung (2 Bde.) Reinbek 1971/72, Rowohlt, 250 u. 219 S. / Michael Seligmann: Aufstand der Räte (2 Bde.) Grafenau 1989, Trotzdem, 711 S. / Kurt Eisner: Die halbe Macht den Räten Köln 1969, Hegner, 292 S. / Erich Mühsam: Ich bin verdammt zu warten in einem Bürgergarten (Literarische u. politische Aufsätze, Hrsg. v. Wolfgang Haug, 2 Bde.) Darmstadt 1983, Luchterhand, 197 u. 183 S. / Wolfgang Haug: Erich Mühsam – Schriftsteller und Revolutionär Reutlingen 1979, Trotzdem, 204 S