Teil 1: Worum geht es beim Great Reset?


Alfred Masur
Aktuelles

Während der Coronakrise machte im Internet der Begriff des Great Reset eine steile Karriere. Es handelt sich dabei zunächst um den Titel eines Buches (1), das von Klaus Schwab, dem Gründer des Weltwirtschaftsforums, zusammen mit dem Co-Autor Thierry Malleret im Juni 2020 veröffentlicht wurde.

Kritische Stimmen sehen im Great Reset einen heimlichen Plan globaler Eliten, ihre Macht über die Menschheit in bisher ungeahnter Weise zu vergrößern. Dies wurde oft als haltlose „Verschwörungstheorie“ abgetan und in der Tat erscheint vieles von dem, was auf diversen Blogs und in den sozialen Medien über Figuren wie Klaus Schwab oder auch das – mittlerweile geschiedene – Ehepaar Bill und Melinda Gates behauptet wird, ziemlich abenteuerlich. Unabhängig davon handelt es sich bei Institutionen wie dem Weltwirtschaftsforum aber tatsächlich um wichtige globale Akteure, deren Projekte durchaus relevant für das Weltgeschehen sind.

Um etwas zur Entmystifizierung beizutragen und einige Aspekte der jüngeren Vergangenheit ein wenig zu erhellen, skizziere ich daher im Folgenden zunächst die Geschichte und Bedeutung des Weltwirtschaftsforums, um dann genauer unter die Lupe zu nehmen, worum es beim Great Reset aus der Sicht seiner Hauptinitiators geht. Es handelt sich dabei um keine abschließende Darstellung, sondern lediglich um einen Zwischenstand meiner Recherchen zum Thema. In einem zweiten Text werde ich mich dann mit den politischen Ideen und Zielen der Gegner:innen des „Great Reset“ auseinandersetzen.

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Parole an einer Dortmunder Hauswand

Vom European Management Symposium...

Klaus Schwab sieht sich selbst als kapitalistischen Weltverbesserer (2). Der 1938 geborene Fabrikantensohn aus dem oberschwäbischen Ravensburg war nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften schon mit Anfang dreißig zum Professor an der Universität Genf berufen worden. Dank seines Talents und durch die Verbindungen seines Vaters hätten ihm sowohl eine erfolgreiche akademische Laufbahn als auch eine Position als Top-Manager in einem der großen deutschen oder europäischen Unternehmen offen gestanden. Aber es ging ihm nicht einfach um seine persönliche Karriere und sein privates Gewinnstreben. Er hatte eine größere Vision. Im Jahr 1971 veröffentlichte er eine Studie mit dem Titel Moderne Unternehmensführung im Maschinenbau.

Er formulierte hier erstmals sein Stakeholder-Konzept der Unternehmensführung, welches bis heute als zentrale Idee sein Denken prägt. Demnach solle ein Unternehmen nicht nur die Rendite-Erwartungen der shareholder, also der Anteilseigner:innen, erfüllen, sondern müsse die Bedürfnisse und Wünsche der stakeholder mit einbeziehen, das heißt aller Personengruppen, die vom Wohlergehen des Betriebs abhängig sind: Belegschaft und Kundschaft, Zulieferbetriebe, die Kommune des Produktionsstandorts, ja letztlich auch der Staat und die Gesellschaft als Ganze. Es geht Schwab dabei nicht um Selbstlosigkeit, vielmehr sei die Sorge um die stakeholder im wohlverstandenen Eigeninteresse der Betriebsleitung: „Das Unternehmen ist wie ein Organismus, der an mehreren Lebensadern hängt. Sie alle müssen gepflegt werden, um ständig ´funktionstüchtig` zu bleiben. Nur so kann das Unternehmen überleben und wachsen.“ (3)

Ebenfalls 1971 initiiert Schwab das erste European Management Symposium in Davos. Das seither jährlich stattfindende Diskussionsforum sollte Führungskräften der europäischen Wirtschaft Gelegenheit bieten, aktuelle ökonomische und politische Fragestellungen zu debattieren, Kontakte zu knüpfen und mit wichtigen Leuten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammenzutreffen. Zur Organisation dieser Konferenzen gründet Schwab eine gemeinnützige Stiftung, die durch Mitgliedsbeiträge großer Unternehmen finanziert wird.

… zum World Economic Forum

Der Ansatz erwies sich als Erfolgsrezept: Parallel zum Siegeszug der liberal-kapitalistischen Globalisierung entwickelte sich das Symposium zunehmend vom europäischen zum weltweiten Elitentreffen und benannte sich folgerichtig 1987 in World Economic Forum (WEF) um. Und es war bei diesem Siegeszug nicht nur Nutznießer, sondern wichtiger Akteur: „Die wahre Bedeutung des Weltwirtschaftsforums liegt im Reich der Ideen und der Ideologie“, schreibt Gideon Rachman in der Financial Times.

In Davos träfen sich die Mächtigen der Welt, „um ihre Differenzen zu überwinden und eine gemeinsame Sprache zu sprechen (…) Sie unterstreichen ihr Bekenntnis zu einer einzigen, globalen Wirtschaft und zu den kapitalistischen Werten, die diese stützen“.(4) Das Forum habe dazu beigetragen, ergänzt Henrik Müller im Manager-Magazin, dass sich unter den weltweiten Eliten „eine ziemlich einheitliche Sicht“ durchgesetzt habe: „weitere Integration der Märkte, verstärkte internationale Zusammenarbeit, schlagkräftige internationale Institutionen“. (5)

Eine wichtige Rolle spielte das WEF dabei, das Führungspersonal des ehemals staatskapitalistischen Blocks (Sowjetunion, China und verbündete Staaten) sowie aufstrebender Schwellenländer in die globale Elite zu integrieren und auf einen wirtschaftsliberalen Kurs einzuschwören. Bereits 1979, als die Weltmarkt-Öffnung Chinas unter Deng Xiaoping gerade erst begann, bemühte sich Klaus Schwab erfolgreich, eine chinesische Delegation nach Davos zu bekommen. Die russischen Oligarchen, die sich in den 1990er Jahren die Ökonomie der zerfallenden Sowjetunion unter den Nagel rissen, hatten beim WEF bald Stammplätze inne.

1992 trat Nelson Mandela, der erst zwei Jahre vorher aus dem Gefängnis entlassene Anführer des African National Congress und spätere Präsident Südafrikas, beim Weltwirtschaftsforum auf. Mandela und seine Partei beabsichtigten damals noch, Südafrikas Banken, Bergwerke und strategische Industrien zu verstaatlichen. Während der Gespräche in Davos begann Mandela jedoch, seine Position zu überdenken. „Sie veränderten meine Ansichten vollkommen“, erinnert er sich später. Tito Mboweni, ebenfalls Mitglied der südafrikanischen Delegation in Davos, berichtet über das Zustandekommen dieses Sinneswandels: Mandela habe beim Weltwirtschaftsforum „einige sehr interessante Treffen mit den Führern der kommunistischen Parteien Chinas und Vietnams“ gehabt. Diese hätten ihm „gerade heraus gesagt: Wir streben momentan danach, staatliche Unternehmen zu privatisieren und unsere Wirtschaft für privates Unternehmertum zu öffnen.

Wir sind Regierungen kommunistischer Parteien und Sie sind ein Führer einer nationalen Befreiungsbewegung. Warum reden Sie von Verstaatlichung?“ Zurück in Südafrika, berichtet Mandela in einem Interview, habe er gesagt: „Leute, wir müssen uns entscheiden. Entweder halten wir an der Verstaatlichung fest und bekommen keine Investitionen, oder wir ändern unsere Einstellung und bekommen Investitionen.“ (6) In der Folgezeit entwickelte sich Südafrika zur am schnellsten wachsenden Ökonomie des Kontinents, wobei die soziale Ungleichheit heute größer ist als zur Zeit der „Rassentrennung“ durch das System der Apartheid. (7)

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Nelson Mandela und Klaus Schwab 1992

In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts kommt dem Weltwirtschaftsforum bei der Absicherung der Herrschaft der globalen Bourgeoisie eine bedeutende Rolle zu. Zwar ist es kein offizielles Beschlussgremium, das völkerrechtlich verbindliche Entscheidungen treffen kann. Aber für den Austausch über die drängenden Probleme des internationalen Wirtschafts- und Finanzsystems und für die Koordination von Maßnahmen zum Umgang mit diesen Problemen bietet es den Staats- und Konzernführungen eine wichtige Plattform. „Das globale Krisenmanagement nach dem Finanzcrash von 2008 wäre ohne den Geist von Davos kaum vorstellbar gewesen, ebenso wenig das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015“ (8), so das Manager-Magazin.

Aber Klaus Schwab wäre nicht Klaus Schwab, wenn er es dabei bewenden lassen würde, die Profitund Machtinteressen seiner Klasse zu fördern. Vielmehr ist sein Anspruch, dem Wohl der Menschheit als Ganzer zu dienen. „Comitted to improving the state of the world“ lautet das Motto des World Economic Forum. Bei den jährlichen Treffen in Davos stehen daher regelmäßig nicht nur klassische wirtschaftspolitische Fragen, sondern auch Themen wie weltweite soziale Ungleichheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, Umweltschutz und Klimawandel auf dem Programm.

Zudem gehörte es von Anfang an zu Schwabs Strategie, bekannte Führungspersonen sozialer Bewegungen, die sich gegen die negativen Auswirkungen der kapitalistischen Wirtschaftsweise wenden, nach Davos einzuladen. So setze er 1974 gegen erhebliche Widerstände aus Wirtschafts- und Regierungskreisen durch, dass der befreiungstheologische Bischof Hélder Câmara aus Brasilien in die Schweizer Berge kommen durfte, um dort dem versammelten Establishment der westlichen Industrieländer für ihre Ausbeutung des Globalen Südens zu tadeln.(9) Heute erfüllt diese Rolle Greta Thunberg, die 2019 in Davos der Weltelite ihr berühmtes „How dare you?!“ entgegenschleuderte.

Grenzen der liberalen Globalisierung

Nach dem Ende der Blockkonfrontation schien es für einen Moment so, als sei die liberale, kapitalistische Demokratie zum weltweiten Leitmodell geworden, zu dem es keine ernsthaften Alternativen mehr gab. Den USA schien als einziger verbliebener Supermacht die unangefochtene Führungsrolle einer zunehmend vernetzten und kooperierenden Weltgesellschaft zuzukommen. Schon bald zeigte sich, dass dies ein Trugschluss war. Zum einen waren den westlichen Industrieländern vor allem mit China, aber auch mit Indien, Brasilien, den ölreichen Golfstaaten, dem Iran und einigen anderen Ländern mächtige Konkurrenten erwachsen, die ihnen in immer mehr Wirtschaftsbereichen ebenbürtig wurden und teilweise sogar den Rang abliefen. Zum anderen zeigte sich, wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington bereits 1996 in seinem Buch The Clash of Civilizations vorhersah, dass die Modernisierung dieser aufstrebenden Schwellenländer keineswegs automatisch mit deren Verwestlichung einherging. Die Eliten dieser Staaten übernahmen Technologie und Geschäftspraktiken des Westens, um ihre Macht zu stärken, hielten aber in politischer, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht hartnäckig und zunehmend selbstbewusst an eigenständigen Wegen fest.(10) Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts machten sich zudem in den westlichen Industrieländern selbst verstärkt antiliberale und nationalistische Gegenströmungen bemerkbar, welche Schutzzölle statt Freihandel und „Our country first!“ statt zwischenstaatlicher Kooperation forderten. Prominenteste Beispiele für diese Tendenz sind natürlich die Präsidentschaft Donald Trumps sowie das Brexit-Votum in Großbritannien.

Das alles hat Folgen auch für das WEF, das sich wie keine andere internationale Institution der Globalisierung verschrieben hat. Zwar treten auch Donald Trump, Chinas Staatschef Xi Jinping und der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro beim Weltwirtschaftsforum auf, aber sie lassen keinen Zweifel daran, dass es nicht der „Geist von Davos“ ist, der aus ihnen spricht. „Dieser Geist verflüchtigt sich“, so der Journalist Henrik Müller, die „Gruppe der Mächtigen und Wichtigen hat sich längst aufgespalten in verschiedene Lager“(11). Klaus Schwab beobachtet diese Entwicklungen mit Sorge. Im Falle des Brexits verlässt er sogar einmal seine übliche Rolle als unparteiischer Moderator und Brückenbauer, um eine in seinen Augen fatale Fehlentscheidung zu verhindern: Kurz vor der Abstimmung hält Schwab in London „einen Strategy Day der besonderen Art ab. Das Forum bezieht in einem ungewöhnlichen Akt eindeutig Stellung und spricht sich für einen Verbleib der Briten in der Europäischen Union aus“(12). Genützt hat es freilich nichts; wenige Wochen später entscheidet sich die Mehrheit der Wahlberechtigten für einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU.

Der „Great Reset“

Das ist der allgemeine Hintergrund, vor dem Klaus Schwab im Juni 2020, kurz nach dem Ausbruch der Coronakrise, sein Buch über den _Great Reset_veröffentlicht.(13) Er prognostiziert darin weitreichende gesellschaftliche Veränderungen: Die Pandemie werde „einen Systemwandel beschleunigen, der sich bereits vor der Krise abzeichnete: der teilweise Rückzug aus der Globalisierung, die zunehmende Entkopplung zwischen den USA und China, die Beschleunigung der Automatisierung, die Sorge über eine verstärkte Überwachung, (...) die Notwendigkeit einer noch stärkeren Online-Präsenz von Unternehmen und vieles mehr“ (19). In diesen Umwälzungen sieht er sowohl Risiken als auch Chancen. Einerseits habe die Pandemie gesellschaftliche Widersprüche und geopolitische Spannungen verschärft.

Andererseits stelle sie „ein seltenes, aber enges Zeitfenster zum Umdenken, Neuerfinden und Neustarten unserer Welt dar.“ (292) Und genau dieser Neustart des gesellschaftlichen Systems, verbunden mit grundsätzlichen Weichenstellungen hin zu einer besseren Zukunft, ist das, was Klaus Schwab mit dem Begriff Great Reset meint: „Es geht darum, die Welt weniger gespalten, weniger verschmutzend, weniger zerstörerisch, integrativer, gerechter und fairer zu machen, als wir sie in der Zeit vor der Pandemie hinter uns gelassen haben.“ (293) Versäumten wir diese Chance, so würde die Welt sich trotzdem ändern, allerdings zum Schlechten: „Nichts oder zu wenig zu tun, bedeutet, mit offenen Augen auf immer mehr soziale Ungleichheit, wirtschaftliche Ungleichgewichte, Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung zuzusteuern.“ (293) Was ist von diesem Aufruf zur Weltverbesserung zu halten?

Es ist bereits viel gespottet worden über das Davoser Treffen der Superreichen – nicht weniger als 120 Milliardäre sollen 2019 dabei gewesen sein – die sich über die „soziale Ungleichheit“ sorgen, der sie ihren Wohlstand verdanken und die mit einer Flotte von 1500 Privatjets anreisen, um eine Reduktion der CO2-Emissionen anzumahnen.(14) Ist der Great Reset also einfach billige Propaganda, mit der sich die kapitalistische Elite einen „grünen“ und „sozialen“ Anstrich verpassen will, um ihre Profitmaschine ungehindert weiterlaufen zu lassen? Diese Sichtweise ist nicht unplausibel. Laut einer aktuellen Studie von Oxfam haben die zehn reichsten Männer der Welt in den letzten zwei Jahren ihr Vermögen etwa verdoppelt, während mehr als 160 Millionen Menschen zusätzlich in Armut leben.(15) Wäre es der internationalen Großbourgeoisie wirklich ernst mit ihrer Sorge um die soziale Spaltung, würde die Bilanz anders aussehen.

Dennoch wäre es zu einfach, die menschen- und naturfreundliche Rhetorik Schwabs als bloße Heuchelei abzutun. Er ist sich beispielsweise bewusst, dass übermäßige Naturzerstörung nicht nur die Lebensgrundlage von Millionen Menschen, sondern auch die Gewinnaussichten seiner Klasse bedroht. Das WEF hat nachgerechnet und ist in seinem Global Risk Report 2020 auf folgendes Ergebnis gekommen: „Derzeit ist mehr als die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts - 44 Billionen Dollar Wirtschaftswert - mäßig oder stark den Risiken von Naturschäden ausgesetzt. Gesunde Gesellschaften, widerstandsfähige Volkswirtschaften und florierende Unternehmen sind auf die Natur angewiesen – und sie alle sind gefährdet, wenn wir nicht handeln.“(16) Auch allzu ungleiche Reichtumsverteilung kann irgendwann für die Bourgeoisie gefährlich werden – wenn die Ausgebeuteten dagegen zu rebellieren beginnen.

Schwab ist die Welle der Aufstände nicht entgangen, die 2019 um die Welt ging – von den Gelbwesten in Frankreich über Libanon, Sudan, Irak bis nach Hongkong und Chile. Und er weiß um den Nährboden, der solche Revolten hervorbringt: „Die größte Grundursache von sozialen Unruhen ist Ungleichheit.“ (102) Daher mahnt er in seinem Buch die Herrschenden, Vorkehrungen zu treffen, ehe es zu spät ist: „Wenn es uns nicht gelingt, die tief verwurzelten Missstände in unseren Gesellschaften und Wirtschaftssystemen anzugehen und zu beheben, könnte das Risiko zunehmen, dass wie so häufig in der Geschichte letztlich ein Umbruch durch gewaltsame Erschütterungen wie Kriege oder gar Revolutionen erzwungen wird.“ (292) Klaus Schwab hat erkannt, dass es sich bei den von ihm identifizierten globalen Problemen um objektive Fragen handelt, die nicht eine bestimmte Klasse oder Nation, sondern die Menschheit als Ganze betreffen und die so oder so gelöst werden müssen.

Es handelt sich also, mit anderen Worten, nicht darum, ob es einen Großen Umbruch gibt, sondern lediglich darum, wie er ablaufen wird und welche Kräfte seine Richtung bestimmen. Schwabs Kernanliegen ist es, dass die westliche, liberale Bourgeoisie bei der Lösung der gegenwärtigen Krise das Heft des Handelns in der Hand behält – beziehungsweise die Initiative zurückgewinnt, wo diese bereits von anderen Akteuren übernommen wurde. Um nichts anderes geht es beim Great Reset.

„Menschenfreundlicher“ Kapitalismus

Mit welchen Mitteln möchte Schwab die Krisenlösung in seinem Sinne beeinflussen? Sehen wir uns zunächst seine Problemdiagnose genauer an: Im Great Reset-Buch betont er die Notwendigkeit einer „globalen Ordnungspolitik“: „Egal ob Pandemien, Klimawandel, Terrorismus oder internationaler Handel: All dies sind globale Probleme, die wir nur kollektiv bewältigen (...) können.“ (132) Das Dilemma unserer Epoche sei jedoch, dass die internationale Zusammenarbeit ausgerechnet in dem Moment, wo sie nötiger sei denn je, immer weniger gelinge: Durch „das Wiederaufleben des Nationalismus“ sowie das Fehlen einer weltweiten Führungsmacht sei ein „Vakuum in der globalen Ordnungspolitik“ (134) entstanden. Als Symptom dieser Entwicklung nennt Schwab die Nichtbeachtung und chronische Unterfinanzierung der UNO und ihrer Unterorganisationen, die kaum noch zu einem wirksamen Krisenmanagement in der Lage seien.

Er beklagt, dass es aktuell kein „Komitee zur Rettung der Welt“ (134) gebe und fragt sich, „ob die bestehenden Organisationen der globalen Ordnungspolitik, wie die UNO und die WHO, zur Bewältigung der heutigen globalen Risiken umfunktioniert werden können“ (137). Wenn aber die Nationalstaaten und die von ihnen getragenen UN-Organisationen nicht mehr fähig oder willens sind, gemeinsam die Probleme der Welt zu lösen, wer oder was könnte ihnen dabei unter die Arme greifen? Im Great Reset erfahren wir dazu wenig Konkretes. Allerdings hat das WEF bereits im Zuge der letzten Weltwirtschaftskrise 2008/2009 eine Global Redesign Initiative gestartet, um gemeinsam mit internationalen Führungskräften aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft Vorschläge zur Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit zu entwickeln. In ihrem programmatischen Abschlussbericht (17) aus dem Jahr 2010 schlägt die Initiative eine umfassende „Neudefinition des internationalen Systems“ vor: Zwar sollten staatliche Regierungen und UN-Organisationen weiterhin den „Kern“ des internationalen Systems ausmachen, aber nicht länger „dessen einzige und manchmal nicht die entscheidende Komponente“. Als Ergänzung zu diesem „staatsbasierten Teil des Systems“ sollten in verstärktem Maße auch private Unternehmen und zivilgesellschaftliche Kräfte bei der Lösung globaler Probleme mitwirken.

Zu diesem Zweck propagiert das WEF die Gründung von „Multi-Stakeholder-Initiativen“ – international agierenden gemeinnützigen Vereinigungen, in denen private Unternehmen, staatliche Stellen und zivilgesellschaftliche Organisationen zugunsten von sozialen und ökologischen Zielen zusammenarbeiten. Diese sollten sich als „Koalitionen der Willigen und Fähigen“ überall dort einbringen, wo zwischenstaatliche Kooperation versagt oder nicht ausreichend ist. Der Global Redesign Report entwickelt konkrete Vorschläge für alle möglichen Bereiche von der Bildungspolitik über die Korruptionsbekämpfung bis zum Wohlergehen der Kinder, in welchen solche Organisationen aktiv werden sollten. Derartige internationale Kooperations-Initiativen von Privatwirtschaft und staatlichen Institutionen waren bereits seit den 1990er Jahren vermehrt gegründet worden; darunter beispielsweise das Weltwasserforum, das Marine Stewardship Council und die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), welche die Vergabe von Domainnamen und IP-Adressen im Internet koordiniert. Neu an der Global Redesign Initiative war der Anspruch, auf solchen „Multi-Stakeholder-Plattformen“ ein komplettes System globaler Ordnungspolitik aufzubauen.(18) Das WEF versteht diese Idee erklärtermaßen als Übertragung von Klaus Schwabs Stakeholder-Theorie der Unternehmensführung auf die internationale Arena.

Anstatt sich ausschließlich auf die Erzielung privater Profite zu konzentrieren und die Sorge um die Rahmenbedingungen gelingender Kapitalakkumulation den Regierungen zu überlassen, sollten global agierende Großkonzerne selbst „ein Verantwortungsgefühl für das Wohlergehen des internationalen Systems“(19) entwickeln. Umgekehrt könnten sie dann aber auch beanspruchen, nicht mehr nur durch Lobbypolitik die Regierenden zu beeinflussen, sondern selbst Teil des politischen Entscheidungsprozesses auf internationaler Ebene zu werden. Wenn also Schwab im Great Reset dazu aufruft, das „Zeitfenster zum Umdenken, Neuerfinden und Neustarten unserer Welt“ nicht ungenutzt zu lassen, so geht es ihm offensichtlich darum, die im Global Redesign Report formulierte Vision einer neuen globalen Ordnungspolitik voranzubringen, in der philantropische, d.h. um das Wohl der Menschheit besorgte, Großkonzerne eine zentrale Rolle spielen.

Das von Schwab propagierte Konzept des „Stakeholder-Kapitalismus“(20) ist weit mehr als nur ein defensives Propagandamittel zur Abwehr von Kritik an den Geschäftspraktiken multinationaler Unternehmen. Es ist auch eine Offensivwaffe, mit der bestimmte Kapitalfraktionen ihre Macht nicht nur bewahren, sondern erweitern wollen. Tatsächlich sind unter der Schirmherrschaft des WEF in den letzten 15 Jahren eine ganze Reihe solcher Multi-Stakeholder-Initiativen entstanden – oft in Kooperation mit derBill & Melidna Gates Foundation, einem zweiten wichtigen Akteur des „menschenfreundlichen“ Kapitalismus. Ihrem Anspruch nach sollen in solchen Organisationen die Belange aller betroffenen Interessengruppen – der „Stakeholder“ – Gehör finden.

Kritische Analysen, wie etwa die des linken Globalisierungskritikers Nick Burton, betonen jedoch, dass die Initiativen in Wahrheit von den Interessen der beteiligten Konzerne dominiert werden, während Vertreter:innen des öffentlichen Sektors und ein paar handverlesene Repräsentat:innen der Zivilgesellschaft eher zu Legitimationszwecken in die jeweiligen Entscheidungsgremien mit aufgenommen werden.(21) Um eine genauere Vorstellung von der Arbeitsweise der vom WEF unterstützten wohltätigen Vereinigungen zu vermitteln, wird im Folgenden deren Einfluss anhand zweier Sektoren beispielhaft skizziert.

Griff nach Afrikas Landwirtschaft (22)

In den Jahren 2007 und 2008 explodierten weltweit die Lebensmittelpreise. Infolgedessen mussten laut Schätzungen der Welternährungsorganisation 70 Millionen Menschen zusätzlich hungern, in über 60 Ländern kam es zu politischen Unruhen.(23) Im Licht dieser Misere geriet die Abhängigkeit der Welternährung von multinationalen Agrarkonzernen sowie deren Geschäftspraktiken von verschiedenen Seiten stark in die Kritik. Als Folge dieser Krise setzte sich in der Öffentlichkeit immer stärker die Überzeugung durch, dass der Schlüssel zur Ernährungssicherheit in den Entwicklungsländern die Stärkung der kleinbäuerlicher Nahrungsmittelproduktion für lokale Märkte sei. Für das internationale Agrarkapital wurde es Zeit für einen strategischen Neuansatz, um seine Interessen zu wahren. Und an diesem Punkt beginnen die philantropischen Initiativen eine Rolle zu spielen.

In den Jahren nach der Nahrungsmittelpreiskrise investieren die Gates Foundation, das WEF sowie einige Großkonzernen wie der norwegische Düngemittelproduzent Yara und die Saatguthersteller Monsanto und Syngenta Milliardenbeträge in ein Netzwerk von teils neu gegründeten, teils schon vorher existierenden Multi-Stakeholder-Plattformen im Agrarbereich. Der geographische Schwerpunkt dieser Initiativen ist der afrikanische Kontinent; zu den wichtigsten gehören die Alliance for a Green Revolution in Africa (AGRA), Grow Africa und die New Alliance for Food Security and Nutrition.

Die privatwirtschaftlichen Geldgeber:innen bemühten sich, zu Legitimationszwecken wichtige Vertreter:innen von UN-Organisationen als Aushängeschilder für sich zu gewinnen – so wurde zum Beispiel Kofi Annan, nachdem er 2006 von seinem Posten als UN-Generalsekretär zurückgetreten war, zum Vorsitzenden der Initiative AGRA. All diese Organisationen haben sich den wohltätigen Zweck der Bekämpfung des Hungers und der Verbesserung der Ernährungssicherheit durch die Unterstützung der afrikanischen Kleinbauernschaft gesetzt. Wie aber stellen sie sich diese Unterstützung vor? Bill Gates persönlich erklärt es uns in einem Vortrag: „Die Kennzahlen sind hier ziemlich einfach. Ungefähr drei Viertel der Armen, die auf diesen Farmen leben, brauchen größere Produktivität, und wenn sie diese Produktivität bekommen, werden wir die positiven Auswirkungen im Bereich des Einkommens, der Gesundheit und beim Prozentsatz der Kinder, die zur Schule gehen, sehen. (…) Das Großartige an der Landwirtschaft ist, dass man, sobald man eine Initialzündung hat – das richtige Saatgut und Information – vieles dem Markt überlassen kann.“ Das „richtige Saatgut“ kommt dabei von Konzernen wie Monsanto und Syngenta. Es handelt sich meist um gentechnisch veränderte, hybride Sorten, die hohe Erträge bringen.

Jedoch können die Bäuer:innen aus diesen Pflanzen nicht selbst Samen für den nächsten Anbauzyklus gewinnen – sie müssen diese stets auf Neue kaufen. Wenn sie erst einmal keine Vorräte an traditionellem Saatgut mehr haben, sind sie auf Gedeih und Verderb von Monsanto und Co abhängig. Diesen Mechanismus gab es schon vorher, neu ist jedoch seine massive Förderung durch vermeintlich gemeinnützige Organisationen. Die von Bill Gates erwähnten „Informationen“ kommen von den Multi-Stakeholder-Initiativen selbst, deren Werbekampagnen die Kleinbäuer:innen vom Einsatz des neuartigen Saatguts überzeugen sollen. Darüber hinaus unterstützen sie den Prozess auch durch die Bereitstellung von Transport- und Vertriebsinfrastruktur, den Aufbau von Musterfarmen und die Verhandlung mit afrikanischen Regierungen über den Abbau von Handelsschranken, Steuererleichterungen und den Schutz von Patentrechten.

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gewünschte Entwicklung der afrikanischen Landwirtschaft nach der Vorstellung der Syngenta Foundation

Ist diese Konstellation erst einmal etabliert, kann tatsächlich vieles den Kräften des Marktes überlassen werden: Ein Schaubild der Syngenta Foundation beschreibt die Effekte der gewünschten Transformation der afrikanischen Landwirtschaft in dankenswerter Offenheit: In mehreren Etappen verwandeln sich hier „subsistence smallholders“ in „advanced farmers“ wobei die Produktivität dank des Einsatzes von „multi-trait hybrid seeds“ immer mehr steigt. Der ganze Prozess ist dabei von einer „migration out of agriculture“ begleitet. Hier wird ausgesprochen, was sonst meist von der menschenfreundlichen Propaganda verschleiert wird: Dass es natürlich nicht alle kleinbäuerlichen Haushalte schaffen, zu profitablen agrarkapitalistischen Betrieben aufzusteigen. Diese Entwicklung ist nur als Konzentrationsprozess denkbar, in dem sich einige wenige konkurrenzfähige Agrarunternehmen durchsetzen.

Die meisten Kleinproduzent:innen müssen irgendwann ihre Höfe aufgeben und sich entweder als Lohnarbeiter:innen in den neu entstandenen Großfarmen verdingen oder aber in die Städte abwandern. Im Kern geht es darum, in einer der letzten noch nicht komplett durchkapitalisierten Regionen der Erde die ursprüngliche Akkumulation in Gang zu setzen: Die Trennung der Menschen von ihrem Land und damit die Freisetzung kommerziell nutzbaren Bodens auf der einen und besitzloser Lohnabhängiger auf der anderen Seite. Die von Klaus Schwab, Bill Gates und Co propagierte Unterstützung der afrikanischen Kleinbäuer:innen läuft langfristig auf deren Abschaffung als Klasse hinaus. Längst regt sich dagegen Widerstand der Betroffenen: Bäuerliche Selbstorganisationen mobilisieren in vielen Ländern des Kontinents gegen die Aktivitäten der Multi-Stakeholder- Initiativen. Ein Vertreter einer solchen Selbstorganisation fasst deren Sichtweise zusammen: „Jenseits der frommen Absichten der Unterstützer:innen der New Alliance tritt deren Gier nach den natürlichen Ressourcen Afrikas immer deutlicher zutage.

Das ist nicht länger eine Vermutung: Interessen des privaten Sektors wurden klar aufgedeckt, sie bestätigen auf traurige Weise die Landraubstrategien, die wir vor Kurzem in Afrika beobachteten. (…) Es ist Zeit für uns, aus mehr als dreißig Jahren der Privatisierung und der Liberalisierung der ländlichen Ökonomie unter ausländischem Einfluss zu lernen, bevor wir den Agrarsektor noch mehr für die Interessen der Investor:innen öffnen. Ich glaube, dass sich diese Probleme auch auf unsere Analyse von Initiativen wie AGRA, Grow Africa oder die New Alliance auswirken sollten.“ Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine wird vor einer neuen Hungernot in Afrika gewarnt, da viele Länder des Kontinents nach wie vor massiv von Getreideimporten abhängen, die zu großen Teilen aus Russland und der Ukraine stammen und nun aufgrund der dortigen Krise auszufallen drohen.(24) Anstatt der propagierten „Ernährungssicherheit“ näher zu kommen, ist die afrikanische Bevölkerung, nicht zuletzt dank des Wirkens der philantropischen Konzerninitiativen, heute von diesem Ziel weiter entfernt denn je.

Umbau des internationalen Gesundheitswesens

Ein weiterer Bereich, in dem Multi-Stakeholder-Initiativen eine bedeutende Rolle spielen, ist das internationale Gesundheitswesen. Zentrale Akteure sind hier einmal mehr die Gates Foundation sowie der vom Pharmakonzern Wellcome gegründete Wellcome Trust. Ich werde mich im Folgenden im Wesentlichen auf die Darstellung des linken Arztes und Historikers Karl Heinz Roth stützen, der in seinem neuen Buch über die Corona-Pandemie(25) diesen Aspekt des Themas gut darstellt. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts war das internationale Gesundheitswesen von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geprägt. Diese 1946 gegründete Sonderorganisation der Vereinten Nationen erzielte von den 1950ern bis in die 1970er Jahre beträchtliche Erfolge beim Aufbau des öffentlichen Gesundheitswesens in den Entwicklungsländern und bei der Bekämpfung ansteckender Krankheiten. Seit Ende der 1970er Jahre waren jedoch zahlreiche Entwicklungs- und Schwellenländer in eine Schuldenkrise geraten und konnten infolgedessen ihre Mitgliedsbeiträge für die WHO nicht mehr bezahlen. Die fehlenden Geldmittel wurden durch freiwillige Spenden reicher Industrieländer nur teilweise ausgeglichen, sodass die Weltgesundheitsorganisation immer stärker in finanzielle Probleme geriet.

An dieser Stelle kommen private Großstiftungen und Pharmakonzerne in zweierlei Hinsicht ins Spiel: Zum einen finanzieren sie durch ihre Spenden einen wachsenden Anteil des WHO-Haushalts. Die Gates Foundation ist mittlerweile nach der US-Regierung der zweitgrößte Financier der WHO. Da ihre Zuwendungen in der Regel projektgebunden sind, erhalten die Geldgeber:innen Einfluss auf die Politik der Weltgesundheitsorganisation, indem sie Projekte bevorzugen, die ihren Profitinteressen nützen.(26) Zum anderen übernehmen von privaten Konzernen gesteuerte Multi-Stakeholder-Plattformen selbst Aufgaben im Bereich des internationalen Gesundheitswesen, die von der WHO und ihren Unterorganisationen aufgrund von finanziellen Engpässen nicht mehr erfüllt werden können. Zu den wichtigsten Initiativen dieser Art gehört die im Jahr 2000 von der Gates-Stiftung gegründete Global Alliance for Vaccine and Immunization (GAVI).

In diesem Projekt arbeiten neben der Stiftung selbst die WHO, verschiedene Regierungen, großer Pharmakonzerne sowie internationale Hilfsorganisationen wie die Ärzte ohne Grenzen zusammen. Ziel der Initiative ist es, Menschen in den Entwicklungsländern durch Impfungen besser vor gefährlichen Krankheiten zu schützen. Dabei entwickelte sich unter den beteiligten Organisationen ein Konflikt über die Prioritätensetzung, den Karl Heinz Roth wie folgt zusammenfasst: „Sollte zuerst die hygienische und medizinische Basisversorgung aufgebaut werden, um die Impfprogramme effizient durchführen zu können, oder hatten die Impfprogramme wegen der rasch zu erzielenden Erfolge Vorrang?“ Während die Hilfsorganisationen sowie einige Regierungen sich für eine nachhaltige Entwicklung des Gesundheitswesens aussprachen, setzen sich die Pharmakonzerne und die Gates-Stiftung für den „Impfen-zuerst-Ansatz“ ein – erstere wegen der zu erwartenden Renditen, letztere wegen des Prestige-gewinns aufgrund der schnellen Erfolge.

Wie in Multi-Stakeholder-Organisationen nicht anders zu erwarten, setzten sich am Ende die Interessen des privaten Kapitals durch. Die Folgen waren zwiespältig: Einerseits konnten tatsächlich viele Millionen Kinder vor Kinderlähmung, Diphtherie, Wundstarrkrampf, Meningitis und anderen Krankheiten geschützt werden. Andererseits mussten die Entwicklungsländer erhebliche Ressourcen und Personal für die Durchführung dieser Kampagnen aufwenden, was deren ohnehin lückenhafte, durch neoliberale Sparprogramme zusätzlich geschwächte Gesundheitssysteme stark belastete. „Das hatte zur Folge“, so Roth, „dass sich in vielen Slum Cities und ländlichen Regionen die allgemeine sanitäre und gesundheitliche Basisversorgung zusätzlich verschlechterte.“ Nebenbei sorgte die GAVI natürlich auch dafür, dass bei ihren Impfprogrammen hauptsächlich die Präparate westlicher Konzerne verwendet wurden – und nicht etwa die der indischen und chinesischen Konkurrenz, obwohl Studien diese als gleichwertig auswiesen und sie zudem wesentlich preisgünstiger waren.

Der Ansatz, Impfkampagnen den Vorrang gegenüber einer nachhaltigen Verbesserung der medizinischen Versorgung zu geben, entwickelte sich weit über das GAVI-Programm hinaus zu einem allgemeinen Trend der Gesundheitspolitik, der sich auch in den Industrieländern auswirkte. Dies hatte fatale Konsequenzen, die sich etwa bei der Pandemie-Vorsorge zeigten. Bereits 1999 hatte die WHO vor dem wachsenden Risiko neuartiger Influenza- und anderer Virusepidemien gewarnt und die Mitgliedsländer dazu aufgerufen, sich angemessen auf solche Ereignisse vorzubereiten. In vielen Ländern wurden daraufhin „Nationale Pandemiepläne“ erarbeitet, darunter auch in Deutschland. Der von der deutschen Expert:innenkommission ausgearbeitete Plan zur Pandemievorsorge sah im Wesentlichen drei Elemente vor: a) das Anlegen von Vorräten an Hygienematerialien (Desinfektionsmittel, Handschuhe, Schutzmasken usw.), um gefährdete Gruppen unmittelbar schützen zu können, b) die Bereitstellung zusätzlicher Kapazitäten in den Krankenhäusern, die im Ernstfall schnell verfügbar sind und c) die Bevorratung von Medikamenten bzw. den Aufbau von zusätzlichen, vom Staat bezuschussten Forschungskapazitäten in den medizinischen Laboren, um bei neu auftretenden Virusvarianten schnell passende Impfstoffe entwickeln zu können.

Diese recht klare Handlungsanweisung wurde 2005 veröffentlicht. Die Behörden trieben jedoch nur Punkt c) voran, während in Bezug auf die ersten beiden Aspekte in all den Jahren nichts passierte, beziehungsweise sogar Betten in Krankenhäusern abgebaut wurden. Roth erläutert die Gründe: „Depots für Desinfektionsmittel und hygienischen Basisschutz passten genauso wenig in die aktuelle Entwicklung des Gesundheitswesens wie der Aufbau klinischer Reservekapazitäten. Dies hätte dem Generaltrend – der renditeorientierten Kommerzialisierung des Gemeinguts Gesundheit – widersprochen und den gerade in Gang gekommenen Ausverkauf der klinischen Infrastruktur durch die hoch verschuldeten Bundesländer und Städte gestört. Infolgedessen beschränkten sich die Vorkehrungen für den Pandemiefall immer stärker auf den renditeträchtigen Sektor dar antiviralen Medikamente und Impfstoffe.“ In den meisten anderen Ländern sah die Situation nicht besser aus. Als dann während der Coronapandemie vielerorts eine Überlastung der Gesundheitssysteme drohte und teils auch tatsächlich eintrat, war das keineswegs eine Naturkatastrophe, sondern ein vermeidbares gesellschaftliches Versagen. Allerdings ist dafür in diesem Fall weniger die philanthropische Kapitalfraktion um Schwab und Gates, als vielmehr die neoliberale Gesundheitspolitik der Regierungen verantwortlich zu machen.

Noch ein weiterer Aspekt der Corona-Pandemie verdeutlicht die Politik der Großstiftungen gut. Als ab Frühjahr 2020 diverse Forschungslabore mit Hochdruck an Impfstoffen gegen Covid-19 arbeiteten, wurden Forderungen nach einer Aufhebung der Patente laut, um auch Menschen in Entwicklungsländern einen Zugang zu diesen Impfstoffen zu ermöglichen. Dies konnte aus naheliegenden Gründen nicht im Interesse der Pharmakonzerne sein. Die von der Gates-Stiftung kontrollierten Multi-Stakeholder-Initiativen GAVI und CEPI riefen daher kurzerhand selbst ein neues Projekt ins Leben, das auf den Namen COVID-19 Vaccines Global Access (COVAX) hört und es sich zum Ziel gesetzt hat, „sicherzustellen, dass Menschen in allen Teilen der Welt unabhängig von ihrem Wohlstand Zugang zu COVID-19-Impfstoffen erhalten“(27). So gelang es ihnen, die Forderung nach Patentfreigabe abzublocken; und da COVAX zu fast 80% durch Zuschüsse der Regierungen reicher Länder finanziert wird, kostete den philantropischen Stiftungen ihre großherzige Geste noch nicht einmal besonders viel.(28)

In den folgenden Monaten machten ihnen jedoch die Regierungen einiger Industrieländern einen Strich durch die Rechnung, indem sie im Alleingang große Mengen an Impfstoff für ihre Bevölkerungen sicherten. Dadurch wurde eine Spirale des „Impfnationalismus“ in Gang gesetzt, da andere Staaten nun ebenfalls Bestände für sich sichern wollten und schließlich Exportverbote verhängten. Am Ende blieb für COVAX nicht viel zum Verteilen übrig. Um nicht leer auszugehen, mussten die Regierungen der Schwellen- und Entwicklungsländer sich nach Alternativen umsehen – in der Folge entwickelte sich zunächst der russische Impfstoff Sputnik V zum Exportschlager. Später richtete China eine Kühlketten-Luftbrücke zwischen Beijing und der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba ein, um den afrikanischen Kontinent mit dem chinesischen Covid-Vakzin zu versorgen – sehr zum Ärger der westlichen Pharmakonzerne.(29) Diese Runde endete 1:0 für die Gegenkräfte des Great Reset.

Ein „globaler Staatsstreich“?

Nick Buxton, Mitarbeiter am linken, globalisierungskritischen Transnational Institute, das mit seinen Studien einiges zum Verständnis der Multi-Stakeholder-Initiativen beigetragen hat, fasst in einem Interview seine Sicht auf den Great Reset wie folgt zusammen: „Ich würde es als eine Art globalen, stillen Staatsstreich bezeichnen, der sich im Bereich der globalen Ordnungspolitik abspielt. Die meisten Leute sehen es nicht. (…) Nämlich, dass sie nicht mehr wie bisher durch Nationen, sondern in wachsendem Maße durch Körperschaften regiert werden, die niemandem verantwortlich sind und von Konzernen dominiert werden. (…) Das untergräbt wirklich die fundamentalen Prinzipien der Demokratie.“(30) – Haben wir es also doch mit einer Weltverschwörung zu tun? Die deutsche Wikipedia definiert den Begriff „Verschwörung“ als „geheime Zusammenarbeit mehrerer Personen zum Nachteil Dritter“(31). Wie wir gesehen haben, handelt es sich beim Great Reset um eine Zusammenarbeit führender Personen aus dem Spektrum der liberalen, westlichen Bourgeoisie, um die Macht ihrer Klientel zum Nachteil des Kapitals der aufstrebenden Schwellenländer, der eher nationalistisch orientierten Teile der westlichen Eliten und nicht zuletzt zum Nachteil der Lohnabhängigen und der Kleinbauernschaft weltweit zu festigen und auszuweiten.

Auch der Aspekt des „Geheimen“ ist gegeben, da es die Elite von Davos ja relativ gut versteht, ihre Macht- und Profitinteressen hinter einer wohltätigen Fassade zu verbergen. Insofern scheint mir der Tatbestand der „Verschwörung“ durchaus gegeben. Dennoch müssen an dem von Buxton gezeichneten Bild einige Korrekturen vorgenommen werden:

Erstens weckt der Begriff „globaler Staatsstreich“ die Assoziation einer die alleinige Macht beanspruchenden Weltregierung. Derartiges wird von Klaus Schwab und seinen Verbündeten nicht angestrebt: Es geht ihnen nicht darum, die Nationalstaaten aufzulösen und ihre Regierungen abzusetzen, sie möchten sich lediglich als weltpolitischer Machtfaktor neben diesen etablieren. Und selbst wenn das WEF im Verborgenen noch weiter reichende Pläne hätte – was keineswegs ausgeschlossen ist –, so könnte es diese wohl kaum eins zu eins umsetzen: Andere Kräfte haben auch Pläne und machen der philantropischen Kapitalfraktion nicht selten einen Strich durch die Rechnung.

Zweitens darf Ursache und Wirkung nicht verwechselt werden. Es ist nicht so, dass Schwab, Gates und die von ihnen gegründeten Vereinigungen die nationalen Regierungen aktiv aus der globalen Ordnungspolitik herausgedrängt hätten. Vielmehr haben die Staatsführungen selbst die UN-Organisationen jahrelang missachtet und finanziell ausbluten lassen und so erst das Vakuum geschaffen, dass dann später von den Multi-Stakeholder-Initiativen besetzt werden konnte.

Drittens erscheint es recht naiv, die Herrschaft durch Nationalstaaten und deren Regierungen als positive, demokratische Norm der „nicht legitimierten“ Konzernherrschaft entgegenzustellen. Die Geschichte mindestens der letzten hundert Jahre zeigt zur Genüge, dass die Lohnabhängigen schlecht beraten sind, wann immer sie sich auf die Vertretung durch Parlamente und Regierungen verlassen. Es geht nicht darum, sich zwischen dieser oder jener Clique der Herrschenden zu entscheiden, sondern eine Bewegung aufzubauen, die sich gegen alle Formen der Herrschaft wendet.

Die Verbreitung einer solchen Perspektive ist umso wichtiger, da ja gerade die liberalen, philantropischen Teile des Kapitals bemüht sind, sich als „verantwortungsbewusste“ Alternative zu den offen autoritär, nationalistisch und „klimafeindlich“ auftretenden Fraktionen der Herrschenden darzustellen. So dient sich Klaus Schwab der ökologischen Bewegung als Bündnispartner an und hofft darauf, Teile derselben für seinen Weg eines „grünen“ Kapitalismus einspannen zu können. Im Great-Reset-Buch hofft er darauf, dass nach dem Ende der Corona-Lockdowns „die Klimaaktivisten ihre Anstrengungen verdoppeln und noch stärkeren Druck auf Unternehmen und Investoren ausüben“.

Dabei sollten sie von einem „Aktivismus der Investoren“ unterstützt werden. Er träumt von einem Bündnis aus grüner Bewegung und grünem Kapital: „Eine Gruppe grüner Aktivisten könnte vor einem Kohlekraftwerk demonstrieren, um eine striktere Umsetzung der Umweltschutzbestimmungen zu fordern, während eine Gruppe von Investoren im Sitzungssaal dasselbe tut, indem sie dem Werk den Zugang zu Kapital entziehen.“ (173) Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben von antikapitalistischen Kräften innerhalb sozialer Bewegungen, solche Ideen als gefährliche Irrwege zu entlarven.


(1) In der deutschen Fassung lautet der Titel Der große Umbruch. (Klaus Schwab, Thierry Malleret: Covid-19: Der große Umbruch, Cologny / Genf 2020). Zitate aus diesem Buch werden im Folgenden durch eine Seitenzahl in Klammern direkt im Text angegeben.

(2) Zur Biographie Schwabs s. Jürgen Dunsch: Gastgeber der Mächtigen. Klaus Schwab und das Wirtschaftsforum in Davos, München 2017, S. 23-28.

(3) Zit. nach: Dunsch: Gastgeber, S. 276.

(4) Zit. nach: Andrew Marshall: World Economic Forum: a history and analysis, 20.01.2015, https://www.tni.org/en/article/world-economic-forum-a-history-and-analysis, Abruf: 22.02.2022.

(5) Henrik Müller: Der "Davos-Mensch" und seine Nachfolger, 21.01.2019, https://www.managermagazin.de/politik/weltwirtschaft/wef-in-davos-weltwirtschaftsforum-und-seine-probleme-a-1248970.html, Abruf: 22.02.2022.

(6) Zit. nach: World Economic Forum: Nelson Mandela in Davos, https://widgets.weforum.org/history/1992.html, Abruf: 22.02.2022.

(7) Vergl. Marshall: World Economic Forum.

(8) Müller: „Davos-Mensch“.

(9) World Economic Forum: In the Midst of Recession, https://widgets.weforum.org/history/1974.html, Abruf: 26.02.2022.

(10) Vgl. Samuel Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München / Wien 1996, S. 76-114.

(11) Müller: „Davos-Mensch“.

(12) Dunsch: Gastgeber, S. 128.

(13) Wie erwähnt, hatte Schwab dabei einen Co-Autoren, den französischen Wirtschaftswissenschaftler Thierry Malleret. Da aber das Buch in wesentlichen Punkten daran anknüpft, was Schwab schon seit Jahrzehnten immer wieder gesagt und geschrieben hat, kann davon ausgegangen werden, dass es im Großen und Ganzen Schwabs Gedanken sind, die im Great Reset verhandelt werden. Ich denke, ich tue Monsieur Malleret daher kein Unrecht, wenn ich ihn im Folgenden vernachlässige.

(14) Jan Dirk Herbermann: Im Privatjet zur Klimarettung nach Davos, 20.01.2020, https://www.derstandard.de/story/2000113511225/im-privatjet-zur-klimarettung-nach-davos, Abruf: 11.03.2022.

(15) Zdf.de: Pandemie verschärft Ungleichheit, 17.01.2022, https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-pandemie-soziale-ungleichheit-armut-oxfam-100.html, Abruf: 11.03.2022.

(16) Eva Zabey: Nature is everyone’s business: a call for collective action to reverse nature loss, 18.06.2020, https://www.weforum.org/agenda/2020/06/business-for-nature-protect-loss-recovery-climate-environment-riskcollective-action-post-covid-world/, Abruf: 06.03.2022.

(17) World Economic Forum: Everybody’s Business: Strengthening International Cooperation in a More Interdependent World, Cologny 2010, S. 7-9, https://www.weforum.org/reports/everybodys-business-strengthening-international-cooperation-more-interdependent-world, Abruf: 18.03.2022.

(18) Vgl. Nick Buxton: Davos and its danger to Democracy, 18.01.2016, https://www.tni.org/en/article/davos-and-itsdanger-to-democracy, Abruf: 18.03.2022.

(19) World Economic Forum: Everybody's business, S. 9.

(20) Klaus Schwab: Why we need the 'Davos Manifesto' for a better kind of capitalism, 01.12.2019, https://www.weforum.org/agenda/2019/12/why-we-need-the-davos-manifesto-for-better-kind-of-capitalism/, Abruf: 19.03.2022.

(21) Nick Buxton: Davos and its danger to Democracy, 18.01.2012, https://www.tni.org/en/article/davos-and-its-dangerto-democracy, Abruf: 19.03.2022.

(22) Sofern nicht anders angegeben, stammen die Informationen, Bildquellen und Zitate dieses Abschnitts aus: Nora McKeon: The New Alliance for Food Security and Nutrition: a coup for corporate capital?, Amsterdam 2014, https://www.tni.org/files/download/the_new_alliance.pdf, Abruf: 13.02.20122.

(23) Wikipedia: Nahrungsmittelpreiskrise 2007–2008, https://de.wikipedia.org/wiki/Nahrungsmittelpreiskrise_2007%E2%80%932008, Abruf: 12.03.2022

(24) Thomas Krumenacker: Höhere Preise für Europa, Hungernot für Afrika, 11.03.2022, https://www.spektrum.de/news/ukraine-hoehere-preise-fuer-europa-hunger-fuer-afrika/1997932, Abruf: 22.03.2022

(25) Karl Heinz Roth: Blinde Passagiere. Die Coronakrise und die Folgen, München 2022, S. 42-84. Soweit nicht anders angegeben, stammen die Informationen und Zitate dieses Abschnitts aus diesem Buch.

(26) Vgl. Julia Crawford: Bill Gates' Milliardenspenden haben auch ihre Kehrseiten, 11.05.2021, https://www.swissinfo.ch/ger/hat-bill-gates-zu-grossen-einfluss-auf-die-who-/46598770, Abruf: 19.03.2022.

(27) Dr. Seth Berkley: COVAX explained, 03.09.2020, https://www.gavi.org/vaccineswork/covax-exp lained, Abruf: 20.03.2022.

(28) Harris Gleckman: COVAX, Amsterdam 2021, https://longreads.tni.org/covax, Abruf: 20.03.2022.

(29) Roth: Blinde Passagiere, S. 280-286.

(30) Nick Buxton, Lynn Fries: Global Coup d’État, 18.02.2021, https://www.tni.org/en/article/global-coup-detat, Abruf: 21.03.2022.

(31) Wikipedia: Stichwort: „Verschwörung“, https://de.wikipedia.org/wiki/Verschw%C3%B6rung, Abruf: 21.03.2022.

Alfred Masur

Der Autor lebt in Dortmund und arbeitet im Bildungssektor.

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